Wissen glauben

Der Hintergrund zum Hintergrund kommt noch, sagte Leovinus zur Eröffnung der 155. Offenen Lesebühne SoNochNie!

Um einen 73. Jahrestag ging es in seiner Anmoderation.

Virtuell hatte er sich nämlich vor den schwarzen Buchstaben Å auf weißem Grund gesetzt, womit er uns auf die dänische Rechtschreibreform von 1948 hinweisen wollte. Außerdem sei am 22. März 1948 Andrew Lloyd Webber geboren, sowie der Fußballer Bernard Dietz, der die deutsche Nationalmannschaft 1980 zur Europameisterschaft führte. Wer hätte das gedacht?

Und dann ging es sofort los mit dem Themenbeauftragten Michael Wäser und dem Thema „Wer’s glaubt“. Ich sage mal: ein Feuerwerk an klugen Gedanken, mit denen er mir aus der Seele sprach.

Micha nannte den Text ein Essay, ursprünglich wollte er ihn „wilde Spekulation“ nennen.

Er begann mit Orson Welles Hörspiel „Krieg der Welten“, das zu Massenpaniken und bewaffneten Bürgerwehren in den Straßen führte, über Stevie Wonders Song „Superstition“, über Q … wie bitte? Was hat denn James Bond bei dem Thema verloren, dachte ich, aber er meinte natürlich QAnon und dann kam er zum nach meinem Dafürhalten schönsten Bonmot des Abends:

Wissen glauben.

Ich will hier nicht noch ausführlicher werden, aber das Ganze gipfelte in der berechtigten Frage:

Gibt es Bielefeld?

Keine Ahnung. Ich bin zwar schonmal dagewesen, aber das ist lange her, und kann man Bahnhofsschildern vertrauen?

Ich war schwer begeistert und die Diskussion im Anschluss zeigte, dass es nicht nur mir so ging.

Anschließend zog Leo mich aus der Lostrommel – und es passte ganz gut, zur Abwechslung was Sinnfreies. Der wilde Knarf sah sich mit einem Meerschweinchenproblem unter dem Küchenschrank konfrontiert. Er erschuf dafür einen Avatar, nannte ihn Schwermeinchen, der das Meerschweinchenproblem lösen sollte. Schwermeinchen nun wollte, wie jeder gut geführte Arbeitskreis (wenn man nicht mehr weiter weiß…) das Problem nicht lösen, sondern verstetigen. Schwermeinchen schmiss Meerschweinchen darum nicht raus, wie sich das der wilde Knarf vorgestellt hatte, sondern besorgte ihm was zu fressen und Heu für ein Lager. Wer Bock auf was leidlich Amüsantes hat, findet den Text hier.

Im Anschluss gab es dann von Katharina Körting nichts Seichtes, sondern einen wütenden Kommentar zum Arschlochtum von männlichen Chefs, speziell im Kulturbetrieb. Männliche Diven, nannte sie die, was mich insofern amüsierte, als sie für die Charakterisierung männlicher Chefs einen eigentlich weiblichen Begriff bemühte. Aber wenn es passt. Diventum ist hinzunehmen wie schlechtes Wetter. Sätze hören zu müssen wie: zu schlecht angepasst für eine Frau meines Alters. Selten weisen Frauen Männer auf solche Unverschämtheiten hin. Und mit der oft bemühten Frauensolidarität wäre es auch nicht weit her. Was Macht macht: großen Schwanz schwenken und mit den Augen abspritzen. Übel würde ihr vor Wut, wenn solche Männer Arschlochigkeit brauchen, um Kunst hervorzubringen. Und wenn es ihm dann um die Ohren fliegt, garniert er seine Entschuldigung mit dem Satz, es täte ihm leid, wenn er Frauen verletzt haben sollte. Dass er Frauen verletzt hat, müsse es wenigstens heißen.

Auch dieser Text wurde vielfältig besprochen und fand großen Zuspruch, auch wenn sich alle anwesenden Männer natürlich nicht angesprochen fühlten. Ich sage mal: das hat seine immanente Logik, denn sonst würden wir woanders lesen.

Es gab dann zehn Minuten Pause und anschließend die Wahl der Themenbeauftragten, und das hat mit dem weiblichen Genitiv seine Richtigkeit, denn Gudrun Sonnenberg wird die Themenbeauftragte des Monats Mai sein. Sie nahm Thema 5: „Spurwechsel“ – viel Spaß dabei, Gudrun.

Zugeschaltet aus Paderborn (liegt das irgendwo bei Bielefeld? Tatsächlich, mal gerade 50 km südlich – gibt es Paderborn?) war uns ohne Bild (gibt es sie wirklich?) die Svenja Volpers. Sie las ein Gedicht mit der Überschrift Chiraptophobie, das ist die Berührungsangst. Komm nicht näher, fass mich nie wieder an. Habe Anstand, halte Abstand. Meine Haut ist wie gefrorener Tau, du wirst dir wehtun.

Das lyrische Ich wehrt sich. Ausdrücklich bestätigte die Autorin, dass auch die Angst vor Krankheiten zur Chiraptophobie führen könne.

Dann las der wieder aufgetauchte Matthias Rische einen Text mit dem Titel „Fehlender Schein“.

Ein Chronist eines Ortes – meistens ging es um die Dunkelheit und die Frage, wohin das Licht verschwunden ist. Matthias malte ein düsteres Bild mit Regen, der aufgehört hat, Dunkelheit, die geblieben ist und Nebel, der dazukam. Ganzjährig Gummistiefel prägten das modische Erscheinungsbild, ein nie nachgefüllter Kaugummiautomat, den er als Kind mal aufgebrochen hatte. Dann wurde es doch noch fassbarer: das Haus der Raumers, ein altes, runzliges Gesicht hinter der Scheibe. Warmherzigkeit ohne Lächeln. Erinnerte ihn an Hanna, die ein Kerzenlicht in seinem Leben angezündet hatte, das sie allerdings mit einer einzigen Bewegung nach drei Jahren auspustete. Mir wird schon schwermütig beim Schreiben. Ich musste immerzu an Mike Hanlon denken, der einst die vertriebenen Seelen zurück zum letzten Gefecht nach Derry holte. Aber solche Anwandlungen hatte der Held von Matthias‘ Geschichte nicht.

Zum Schluss wurde als Tonkonserve Stefan Franken eingespielt mit einem Gedicht mit dem Titel B.1.1.7.

Wie immer reimte es sich prima bei Stefan, er hat da echt ein Händchen für. Allerdings fehlte mir diesmal die Pointe. Micha meinte, das Gedicht transportiere so ein Schulterzucken. Wie ein Jahresrückblicksgedicht. Man kann es hier nachlesen.

Und das war sie, die sehr anregende 155. Lesebühne SoNochNie. Bevor alle das Zoom-Meeting verließen, versicherten wir uns, wie schön es gewesen war. Und das muss auch ich sagen. Ich war beschwingt und froh, bis ich Mitternacht ins Bett musste.

Bisher versicherten wir uns auch immer, dass wir uns bald live im Zimmer 16 wiedersehen würden. Diesmal klang das sehr viel vorsichtiger. Aber gerade darum: Spenden nicht vergessen, wer es sich leisten kann. Jeder Euro zählt, sagt man immer, aber natürlich sind andere Zahlen am Anfang und noch eine Null am Ende deutlich hilfreicher. Spendenkonto findet ihr auf der Homepage des Zimmers 16 und auch unter www.sonochnie.wordpress.com.

Euer

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