Irgendwie ist doch immer Geburtstag

 

Jedenfalls bei SoNochNie. Am 28. Oktober 2019 haben wir dank Leovinus den 782. Geburtstag von Cölln an der Spree gefeiert, denn „In Berlin vor langer Zeit machten sich die Cöllner breit“, so dichtete er. Und was reimt sich besser auf „Gefluche“ als die themenbeauftragte „Wohnraumsuche“? Danke, Leo! Für diese elegante Einleitung gibt‘s auf jeden Fall eine ohrgepinselte Moderatorenurkunde.

Matthias übernahm den Staffelstab und berichtete unter dem Titel „Vom Suchen und Vergessen“ mit leiser Melancholie, aber keineswegs schwermütig von den Nöten seiner ersten jugendlichen Wohnraumsuche. Das war 1983 im mauergeschützten Westberlin. Mit der Morgenpost unterm Arm und klammheimlich. Die fürsorglich-dominanten Eltern (oder war es nur die Mutter?) hätten wenig Verständnis aufgebracht für seinen Ausbruchsversuch aus dem trauten Lankwitzer Heim. Doch unterwegs zum Besichtigungstermin befällt ihn Panik: Würde er nicht – sowie einmal ausgezogen – im Handumdrehen vergessen werden? (Denn: „Wer solche Eltern hat, der hat auch keine Freunde.“) Und dafür, so traf ihn brutal die Erkenntnis, war er dann doch noch nicht bereit. Also husch, zurück ins Körbchen und aufgeschoben den vorwitzigen Plan. Nach Abschluss seiner Tischlerlehre würde die Welt bestimmt schon ganz anders aussehen … Viel positives Feedback gab‘s für diesen Beitrag und natürlich die berühmte Ehrenurkunde.

Dann betrat der Elmar – Premiere, hört, hört! – die Bühne mit Gitarre und trug Lyrisch-Prosaisches in der Tonart „Pullmoll“ zum Thema „November“ vor: „Lausiges Novembernass sickert ins Gemüt …“ Da ist Oma Fähnchen mit einem Blumenstrauß unterwegs zum Grab ihres verblichenen Heinrich und wird – das Leben steckt voller Widrigkeiten – von den frechen Blütenstängeln „in die Titten“ gepikst. Vielleicht ist sie so alt wie Pippi Langstrumpf jetzt wäre, die womöglich als Pippi Strützstrumpf im Altersheim von Taka-Tuka-Land lebt, sinnierte der Autor. Bezüglich Oma Fähnchen schloss er mit den Zeilen: „… und sie sehnt herbei voll Schmerz a) die Weihnacht, b) den März.“ Als wäre das nicht Unterhaltung genug, gab‘s noch ein Chanson über einen Torero ohne Tiefsinn obendrauf. Immer wieder gern, durchaus auch singend, Elmar!

Dritte im Lesereigen war Suse aus Neukölln, die einen „Goldenen Nachmittag ohne Nixe“ zum Besten gab. „Wir treffen uns beim Supermarkt. Rotze wartet bereits.“ So setzte sie von Anfang an treffsicher den Ton. Die Ich-Erzählerin der Milieustudie ist knapp 14, raucht und trinkt Goldkrone, um sich den Tag zu vergolden. Zum Geburtstag wünscht sie sich Torte, Sekt und „dass Muddern mal nüchtern ist“. Sie hat das Sagen in der Gang, zu der auch Zecke, Kay und Nixe gehören. Aber Nixe fehlt an dem Tag, und Zecke ist zu spät. Muss dafür Pizza klauen im Supermarkt. Erst läuft alles glatt, dann kommen „die schwarzen Ladenhüter“, und es wird eng für die Mädchen … Suse weiß, wovon sie redet und ist nicht nur sprachlich dicht dran an ihren Protagonisten. Das Publikum ging voll mit.

Nach der Pause ist vor der Wahl. Doch Überraschung: Nicht nur die von Leovinus beverste in Thüringen ist passé, sondern auch die zum Themenbeauftragten für Dezember – glücklicherweise mit besserem Ergebnis. Der abwesende Frank hatte sich darum beworben und muss sich nun zum Thema „Kirsch“ was einfallen lassen, nachdem „Sündenfall“ – Thema Nr. 1 – in der (erstmaligen) Publikumsabstimmung durchgefallen war.

Was wäre eine Lesebühne ohne Wolfgangs Assoziationsakrobatik? Kariert versus liniert – so lautete die Versuchsanordnung. Eine Recherche im Schreibwarenladen brachte die ganze Bandbreite an möglichen Lineaturen zutage: groß- oder kleinkariert, mit Rand oder ohne und wenn ja, wie breit. Der Transfer der Lineaturen ins wahre Leben gelang Wolfgang bei einem Punkkonzert auf dem Tempelhofer Feld mühelos, fand das geneigte Publikum. Eine Zuhörerin nahm die Frage mit, welches Teilchen oder Kästchen im großen Ganzen sie wohl sei und ob sie auch Ränder habe. Danke, Wolfgang, für diesen erfrischenden Denkanstoß!

Eigentlich zu spät erschienen, weil in Unkenntnis unserer neuen Anfangszeit (19.30 Uhr), bekam Oliver doch noch die Chance zum Vortrag. „Part of missing man“, lautete der Titel, wenn ich das richtig notiert habe. Es ging um Kurt Cubain, den 1994 mit 27 jungen Jahren selbstgemordeten Sänger und Gitarristen der Band Nirvana, um sein Album „Never Mind“, seine schwierige Kindheit, die quälende Monotonie seines Rockstarlebens, seine Depressionen. Ein langes Gedicht nannte Oliver den sprachlich dichten, inhaltlich schwebenden Text, dem wir gern zuhörten. Nach eigener Aussage ging es ihm um Konformismus, Wahrhaftigkeit und wie Kreativität auch in einem brutalen Arbeiterumfeld an Gestalt gewinnen kann. Cubains Geist traf das jedenfalls ganz gut, fand nicht nur Wolfgang.

Mit „Die Wohnung“, einem Auszug aus etwas Längerem, beschloss Barbara diesen abwechslungsreichen Abend. Ihr Text knüpfte direkt an ihre Älteres-Ehepaar-Geschichte an, in der die Frau auf den richtigen Moment zum endgültigen Gehen wartet. Jetzt ist sie wirklich fort, allein in der im Stillen gekauften Zweieinhalbzimmerwohnung. Es klingelt an der Tür, sie muss eine allzu neugierige Nachbarin abwimmeln, bevor sie sich ein Glas Wein gönnt. Das soll ihr helfen, „den Mann zu vergessen, der sie 35 Jahre lang zu seiner Haushälterin gemacht hat“. Eine sehr geradlinig erzählte Episode, merkte Suse an, und tatsächlich könnte das Gesamtprojekt durch mehr Gestaltungsfreude noch gewinnen. Erzählenswert fanden wir die Geschichte allemal.

Das war sie auch schon wieder, die etwa 182. offene Lesebühne SoNochNie. Die schönen Fotos stammen wie immer von Michael – danke! Unser Dank geht natürlich auch an das Team vom Zimmer 16. Am 25. November wird uns dann Wolfgang als Themenbeauftragter verraten, was es mit einem „Vorhang“ auf sich hat, vielleicht gehabt hätte oder künftig würde haben können. Wir sehen uns!

Sechs Streiche Lesen

Georg V., letzter König von Hannover, wäre an diesem 27. Mai 2019 ganze 200 Jahre alt geworden, verriet uns Moderator Leovinus eingangs launig. Diesem bedeutenden Anlass nicht ganz entsprechend ging‘s mit ‚nur‘ sechs Lesenden auf unserer 133sten SoNochNie-Bühne eher übersichtlich zu. Ob das Relegationsspiel von Union Berlin gegen den VfB Stuttgart mit folgendem Union-Aufstieg in die erste Bundesliga daran irgendwie beteiligt war, bleibt allerdings reine Spekulation. An Spannung hat es an diesem Abend im Zimmer 16 dennoch selten gefehlt.

Unsere Themenbeauftragte Ulrike Günther schaffte es trotz gegenteiliger Ankündigung pünktlich zu 19.30 Uhr auf die Bühne und fing uns mit ihrem vom Handy gelesenen bild- und metaphernreichen Text zum Thema „Sieben Streiche Leben“ mühelos ein. Ihr Protagonist Moritz bekommt in einem Berliner Straßencafé die Aufsicht über ein Paket übertragen, das, wie sich herausstellt, an ihn adressiert ist und ihm – nach Kündigung im Büro – mit (zu engen) blauen Schuhen den Weg in eine lichtvolle südfranzösische Zukunft weist. Der Text ist in sieben Tageskapitel unterteilt, jeweils gekrönt von einer Überschrift aus der gut durchgemixten Sprücheküche. Von „Müßiggang ist so alt wie die Zeitung von gestern“ bis „Das blaue Wunder pfeift von den Dächern“ – alles dabei. Die Sprache kam gut an, die Spannung stieg von Tag zu Tag. Verdientermaßen gab‘s dafür die Ehrenurkunde. Danke, Ulrike!

Richard Hebstreit, unser zweiter Lesender, hatte gleich seinen Lektor und den Protagonisten seines „Ludendorf“-Textes aus der Sammlung „Berlin – Komische Geschichten“ mitgebracht und zeichnete die Lesung wohl auch auf. Der Ich-Erzähler bewirbt sich wie der titelgebende Ludendorf um einen ABM-Job als Hilfstarif- bzw. Hilfsexistenzgründungsberater. Beide werden eingestellt und erleben Anekdotisches mit den übrigen 40 Mitarbeitern. Gegen Ende wird der Erzähler von einem Klienten namens Hassan, von dem er finanzielles Unheil abwenden soll, zur Hochzeit eingeladen, woraus wohl nichts werden wird, wie Ludendorf unkt. Das Feedback aus dem Publikum war eher kritisch. Der rote Spannungsfaden wurde in dieser episodischen Reihung mehrheitlich vermisst.

Als Stammleserin stellte nun Petra Lohan ihren neuen Text „Ohne Gesicht“ vor. Die schreibwillige Ich-Erzählerin beobachtet auf einem großen Platz in der Stadt die Begegnung eines sehr, sehr alten Mannes (mindestens 200 Jahre – eine Wiedergeburt Georg V. von Hannover?), der anfangs reglos wie eine Skulptur erscheint und sein Gesicht hinter einem Tuch verbirgt, mit einem jungen Mann, der als Clown verkleidet vom Junggesellenabschied kommt. Alkohol ist beteiligt und Scham. Die rote Clownsnase, vom Wind als Spielball zwischen den beiden und der Erzählerin benutzt, schafft Raum für Assoziationen. Es ist ein leiser Text mit melodischer Sprache. Jemand meinte, Clowns seien als Motiv zu abgenutzt, um noch darüber schreiben zu können, eine andere, dass die Erzählerin verzichtbar sei, ein Dritter empfand gerade im Figurendreieck Spannung. Das Uneindeutige, Unfertige an diesem Text forderte heraus – ganz im Sinne unserer Werkstattbühne.

Auch Matthias Rische gehört schon länger zu unseren Wiederholungstätern. Mit „Der Wandler“ bot er diesmal die feinfühlig erzählte Geschichte eines Jungen, der dem Vergleich mit dem verschwundenen älteren Bruder in den Augen der Mutter nie Stand halten konnte und daran leidet, aber nicht zerbricht. „Wo ist Massimo?“ – Die Frage bestimmt sein Denken und Tun. Mit der Energie des Forschers legt er im Garten ein Rohr frei, das andeutet, was mit dem Bruder passiert sein könnte. Im Rohr findet er die Eier von Schmetterlingen, luftigen Flugwesen als Metapher für eine andere Welt. Er sei ein Träumer, sagt die Mutter, doch er widerspricht: „Ein Wandler, Mutter, ein Wandler.“ Berührend und trotz der schweren Thematik von Hoffnung getragen hat der Text das Publikum überzeugt.

Vor der Pause sprang Leovinus mutig in die Bresche, als niemand freiwillig den Juli-Themenbeauftragten geben wollte. Das erste Thema „Wahrnehmungsillusionen“ lehnte er aus purer Neugier ab und muss sich deshalb nun mit „Wundheilung“ beschäftigen. Wir sind gespannt.

Heiko Heller beehrte uns nach längerer Pause mal wieder mit einem Vortrag, in dem er seine Erfahrungen nach einem anaphylaktischen Schock aufgrund übermäßigen Pfirsichverzehrs verarbeitet. „Der Tod hat eine Pfirsischhaut“, so der Titel. Dem ernsten Anlass trotzend rang er der Situation jede Menge Komik ab. „Ein Ossi, der an Südfrüchten stirbt. Das wäre mir in der DDR nicht passiert.“ Oder: „In Krankenhäusern bekommt man oft Indianernamen. ‚Der lange Schock‘ aus Zimmer 13…“ Oder: „Ich sollte Krankenhausserien schreiben. Am Ende jeder Folge wären bei mir alle tot. Das wäre ein völlig neues Konzept.“ Das Publikum ging voll mit. Jemand regte sogar an, den Text an den Eulenspiegel Verlag zu schicken. Es lebe die pointierte Unterhaltung!

Zuletzt – wie schon so oft – entführte uns Wolfgang Weber mit drei Texten, die er in verschiedenen Ausgaben des Kunstmagazins ‚Innenwelten‘ veröffentlichte, ins Jahr 1969. Genauer gesagt auf eine subventionierte Reise, die er 16jährig mit dem Kreisjugendring nach Berlin unternahm. In 14 Streiflichtern lässt er die Stadt und seine Erinnerungen aufblitzen, die Grenzkontrollen, das Jugendzentrum Marienfelde, das Haus der Kulturen der Welt, das sowjetische Ehrenmal, das ‚Big Eden‘, die Pfaueninsel, das Sechs-Tage-Rennen, den Fernsehturm, aber auch die Mondlandung, die Willy-Brandt-Wahl, den berühmten Africola-Slogan. „Es passierte so viel, dass es für mehrere Jahre gereicht hätte. Ein Kaleidoskop. Ein Kessel Buntes. Und heute? Und ich? Bin wieder in Berlin. Schon seit 30 Jahren“, schließt er. Nicht ganz so wild assoziativ wie sonst war sein Text diesmal eine leisere, persönlichere Zeitreise in historisch bewegte Tage.

Zum frühen Abschluss des Leseabends gegen 22 Uhr stand es bei Union zwar immer noch 0:0, auf dem Lesbühnenspielfeld konnten wir aber durchaus ein paar Tore verbuchen. Danke an alle Autorinnen und Autoren, an das Publikum, an Moderator Leovinus, an Fotograf Michael Wäser und an unsere Gastgeber im Zimmer 16! Bis zum nächsten Mal bei SoNochNie am 24. Juni 2019, wenn Michael Wäser als Themenbeauftragter uns Schockierendes rund um die „ZIGARRETE“ (echt wahr) enthüllt …

Von wegen grau!

 

Der November kann diese Farbe traditionell für sich beanspruchen – die offene Lesebühne SoNochNie vom 26.11.2018 dagegen keineswegs. Leovinus, unser geschätzter Moderator, war leider verhindert, und so begann vertretungsweise Frank seine beherzte Moderation mit einer Überraschung: Steffen, der Themenbeauftragte des Monats, muss beim Fliegen Lernen entweder ins Straucheln gekommen oder weit übers Ziel hinaus geschossen sein, jedenfalls hat er uns versetzt. Dafür sprang – zweite Überraschung – Lucie ein, die Themenbeauftragte vom Juni, die uns ihrerzeit wegen einer Fußverletzung spontan abhanden gekommen war. Aber ich will nicht vorgreifen, den ersten Leseplatz am schlichten Holztisch besetzte nämlich Jane, die wiederum im Oktober infolge übermäßigen Autorenandrangs nicht mehr zum Zuge kam. So viel zum unterhaltsamen Bühnenreigen.

Jane also berichtete in ihrem Text „Der blinde Fleck“ von einem Autor, der sich an Thomas Mann misst und kein Wort aufs Papier bekommt, obwohl er unumstößlich weiß: „Ich muss schreiben!“ Nur um einen Schriftstellerkollegen zu beeindrucken, bringt er zum Jahresende dann doch ein Werk heraus, hinter dem er nicht steht, und hat sogar Erfolg damit. Als er stirbt, sagt man, er war ein schrecklicher Mensch. Die Diskussion entzündete sich an der Frage, warum Jane über so ein Arschloch geschrieben habe und ob ihr Text thematisch zu vollgestopft sei für eine Kurzgeschichte. Die einen sahen Ansatzpunkte zur Romantrilogie, die anderen plädierten für noch stärkere Verdichtung. Sprache und Vortrag des Textes fanden jedenfalls Anklang.

Dann bat Lucie das Publikum, die Augen zu schließen bevor sie – mehr assoziativ als analytisch – in eine veritable Feinstaubbelastung abtauchte. „Ich sehe nichts, höre nur das feine Rauschen der Stille …“, beginnt sie und fährt fort mit altem Dreck, der schwer lastet und einem Lichtstrahl, der an ihrer Fingerkuppe leckt, bevor erst sie im Text, dann auch wir im Publikum die Augen wieder öffnen. Der kurze, stimmungsvolle Vortrag hätte ein wenig kraftvoller und langsamer gesprochen noch stärker wirken können.

Marcel las Lyrik. In „Treibsand oder Alles ist gut“ (nach dem Film „Alles ist gut“) versucht eine Frau, sich nach einer Vergewaltigung nicht unterkriegen zu lassen. „Begegnung mit Sankt Dementia“ basiert auf einem realen Erlebnis des Autors mit seiner Tochter vor einem Seniorenheim. „Ich will nach Berlin, da, wo noch Weihnachten ist“, erklärt eine alte Dame melancholisch. Sein letztes Gedicht „Rabenliebe“ beruht auf Peter Wawerzineks gleichnamigem Roman und endet mit dem Satz des Erzählers an seine Mutter: „Ich bin dein Kind, ich dien‘ dir als Krücke, du brütest mich aus und lässt mich zurück.“ Die Lyrik kam an, nur über die Notwendigkeit der Vorgeschichte zum zweiten Text gingen die Meinungen auseinander.

Octavia hatte drei Kurzgeschichten dabei. Eine „Alte Frau am Fenster“ beobachtet eine junge Frau, die täglich am Meer auf den geheimnisvollen Geliebten wartet und enthüllt dessen Identität erst, als die junge Frau in weißem Kleid und mit Taucherbrille auf eine Delphinflosse zuschwimmt. „Die Prophezeiung“ erzählt von Tante Hermine, der ein früher Tod vorhergesagt wird, weshalb sie weder heiraten noch Kinder bekommen will. Doch zum Erstaunen der erst mitleidigen, später vorwurfsvollen Verwandtschaft sieht man sie selbst mit 84 Jahren noch auf einem Kamel in der Wüste. In „Fifty-fifty“ sorgt ein bärtiger junger Mann mit arabischen Zügen im Nahverkehr spätestens als sein Handy klingelt für latenten Generalverdacht. Doch nichts passiert. Mit ihren leisen, nachdenklichen Beobachtungen entließ uns Octavia fast in die Pause.

Zuvor meldete sich Barbara Schwittmann als Themenbeauftragte für den Monat Februar und wählte gleich das erste Losthema: Der Aufbruch.

Nach der Pause gab’s von mir, Angela, eine brandneue halbe Geschichte mit dem scheinbar eindeutigen Titel „G-Punkt“. Eine Frau, die gerade sämtliche Brücken hinter sich abbricht, wird von ihrer Vergangenheit in Gestalt eines älteren Mannes überraschend eingeholt und mit sanftem Nachdruck zur Änderung ihrer Pläne genötigt. Wer wissen will, wie es weitergeht, komme am 15. Dezember 2018 um 19 Uhr zur traditionellen ADVENTSLESUNG der KernautorInnen von SoNochNie unter dem Motto „ALTE BEKANNTE“ in den Jugendclub M24 in Berlin-Pankow (siehe Flyer in meiner Hand). Nur so viel sei noch gesagt: Es war wohl die längste und spekulativste Diskussion über einen halben Text in der Geschichte unserer Lesebühne.

Der unnachahmliche Wolfgang W. brachte uns mit seinem Text „Was ist eine Rhythmusmaschine?“ weniger zum Nachdenken als zum entspannten Mitschwingen und verwies in Sachen Antwort auf den amerikanischen Jazz-Saxophonisten Phil Woods, der die Rhythmusmaschine im Bandnamen trug, auf den Drummer Buddy Rich, mit dem Woods kurzzeitig spielte und auf Iggy Pop mit seinem Hit „The Passenger“ in einem neuen Werbespot der Deutschen Bahn.

Die dritte Überraschung des vielseitigen Abends gelang Richard, der seinen Vortrag gleich selbst mit Kamera und Mikro aufnahm, um ihn den Cohen-Brüdern nach Hollywood schicken zu können. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Tatsächlich gehörte seine alten Sagen entlehnte historisch-fantastische Geschichte um einen Kriegsheimkehrer, der in den Zwanziger Jahren die negative Masse von Basaltsplittern entdeckt und mittels ihrer Tragkraft und einer Fluggerätattrappe dem Streit mit seiner Frau in die Rhönberge entschwebt, vielleicht gerade wegen ihrer dokumentarischen Anmutung zu den schrägsten Beiträgen des Abends.

Den Abschluss bildete Wolfgang E. mit zwei Witzen aus dem semitischen Volksmund, die er zu erheiternden Geschichten ausgebaut und auf jeden Fall bühnenreif vorgetragen hat. In der ersten wird Gott seine Gesetzestafeln nach mehreren Fehlversuchen nur deshalb bei Moses los, weil sie nix kosten, im zweiten soll ausgerechnet „es Davidle“ mal was werden und hat‘s alles andere als leicht.

Beschwingt ging diese 128. SoNochNie-Lesebühne zu Ende. ACHTUNG: Der Dezembertermin fällt, weil auf den 24., leider aus. Wir sehen uns erst am 28. Januar 2019 wieder, wenn Wolfgang W. zu themenbeauftragten und garantiert rhythmischen Spekulationen ansetzt. Bis dahin kommt gut durch den Advent, die Festtage und ins neue Jahr!

Unfisch auf dem Mars

 

Wieder so eine gut gefüllte Lesebühne an diesem eisigen 26. Februar 2018. Neben Stammpublikum auch eine Reihe neuer Gesichter. Scheint seinen festen Platz in der Berliner Kulturszene gefunden zu haben, unser vielseitiger literarischer Abend mit Senf dazu. Obwohl Senf diesmal streckenweise rar war. Stimmlippen eingefroren? Scheinwerfer zu grell? Zu viel Input? Fassungsvermögen des Abends mit acht Lesenden wieder mal voll ausgeschöpft. Inzwischen fast Standard. Das bunte Paket professionell zusammengehalten von Leovinus in der ersten Hälfte und Frank Georg Schlosser in der zweiten. Wichtig dabei: ein starker Einstieg. Den hatten wir.

UnfischMichael Wäsers Beauftragtenthema. Ein Unfisch auf dem Mars. Gehört nicht dahin. Kann nicht mal scheißen, wenn‘s dran ist. Aber wohin mit 250 Billionen Eiern? Fett Party, ist ja wohl klar. Nur für die Besten, versteht sich. Raumschiff gebaut, die komplette Ausrüstung an Bord und ab zum roten Nachbarn. Spitzenalternative zu unserem abgeranzten Planeten. Nur blöderweise: Dixi-Klos vergessen. Dabei geht‘s letztlich immer ans Eingemachte. Hätte man vorher wissen können. Hosen runterlassen ist in dieser Gegend lebensgefährlich. Also doch ein Fehler, die Erde so leichtfertig aufzugeben? War ja nicht alles schlecht. Die Straßennutten in Bangkok zum Beispiel entwickeln sich prächtig. – Cooler zeitgemäßer Text, passend ruppige Sprache, viel Beifall, danke, Michael!

Danach Frank Georg Schlosser. Romanauszug. Kapitel: AVM Dienstag Nachmittag. Neu dabei: Ariane von Malotky, orangefarbene Sonnenbrille plus Strohhut, seit ein Fremder sie vor die Berliner U-Bahn stoßen wollte. In der Hand einen USB-Stick von Nob, dessen Inhalt ich nicht erinnere. Vor ihr liegt ein Interview mit Politiker Krampitz, von zwei Stunden auf eine verkürzt. Stress ist angesagt, Professionalität gefragt. Wie sie das meistert, erfahren wir vielleicht im März. Gut zuhören ließ sich dem Text. Flüssige Sprache, wie immer bei Frank.

Matthias Rische erzählte in Spiel mit der Erinnerung vom Brainscanner, den Professor Momhard voller Enthusiasmus an einem Patienten mit impulsgesteuerter Kontrollstörung testet. Ziel: die Ursache der Störung finden. Verschiedene Erinnerungen werden abgerufen, enden beim Bild eines traurigen siebenjährigen Clowns mit toten Augen. Momhards Begeisterung schlägt unvermittelt in Betroffenheit um. Das will er niemandem zumuten. Er zerschlägt das teure Gerät. – Die Grundidee, gar nicht so fantastisch, kam gut an beim Publikum. Nur die Wandlung des Professors überzeugte nicht ganz und die Perspektive der aufgezeichneten Erinnerungen wurde hinterfragt.

Vor der Pause Wolfgang Weber kurz und kurios: Schreib deinen Text! „Es ist wie verhext. Du bist stets in irgendeinem Kontext. Schreib deinen Text! Schreib‘s auf. Schicksal nimmt seinen Lauf. Glück auf beim Nudelauflauf. Sei exzentrisch und konzentrisch. Mach‘s wie Kisch: Leg deinen Text auf‘n Tisch! Schreib deinen Text. Alle sind perplext.“ – Schräge Reime, vom Lineal als Taktstock rhythmisiert – das Publikum dankte für die unterhaltsame Auflockerung.

Nach der Pause heftiges Gerangel um den Platz des Themenbeauftragten im April. Nein, Wunschvorstellung. Eine Bewerberin immerhin. Wir freuen uns auf Diana-Dana Möller mit dem von ihr gewählten ersten Thema: Mensch in seiner Zelle.

Dann ich, Angela Bernhardt. Mit einem möglichen Romananfang. Arbeitstitel: Niemand ist schneller. Eine junge Frau auf Städtetrip in Rom. Ihr Freund verschwindet urplötzlich aus dem antiken Forum Romanum. Keine Spur, keine Nachricht, nicht mal ein Duft bleibt zurück. Nur die bange Frage: Gab es ihn wirklich? – Kam gut an, war laut Publikum spannend, temporeich erzählt, Sprache prägnant. Etwas langsamer hätte ich wohl lesen können. Ich werde weiter schreiben.

Diana-Dana Möller brachte Gedichte mit. Ein Stern wird geboren – „in einem Millimoment der Zeit“. Im Reich des Regenbogens – „Farben begleiten, berühren das Leben, so war‘s, so wird es bleiben.“ Das Tegeler Fließ – „macht das Herze weit“. Wasser – „… bringt Spaß und Blumen zum blüh‘n, und kein Mensch kann sich dem Zauber des Wassers entzieh‘n.“ Die Pracht der Bäume – „In ihrem Leben werden Bäume viel verletzt, Sturm, Blitz und Menschenart haben ihnen hart zugesetzt.“ – In den Reimen eher holprig, in den nach Dianas Aussage umfangreich recherchierten naturwissenschaftlichen Aspekten zu einfach gemacht stieß ihre Lyrik nur teilweise auf Zuspruch.

Im Anschluss noch mehr Gedichte, jetzt von Stefan Franken. Rache, Libelle, Hut, Beine, Zwiebel und Blümelein – allesamt scharfsinnig und pointiert gereimt – ein Hörgenuss. Beispiel gefällig? „Es sucht eine gläubige Zwiebel in ihrem Leben nach Sinn. Sie sucht den Sinn in der Bibel, doch steht über Zwiebeln nichts drin.“ – Immer wieder gern mehr davon.

Daniel Marschall, SoNochNie-Neuling, gab uns den Rest. Mit einem Auszug aus seinem veröffentlichten Roman Der Denunziant. Anmoderation und Hinführung zur Lesestelle im Sprechgesang präsentiert mit Gitarre, Verstärker und einiger Technik mehr. Die Grundidee gleich im ersten Satz: „Ich, IM Schriftsteller, wurde enttarnt.“ Zum Verhängnis wird ihm nicht ein Lügendetektor, sondern die eigene Panik davor. – Das musikalisch unterlegte Intro sorgte zum Teil für Verwirrung, der Text selbst für positive Resonanz.

Und das war‘s auch schon. Besten Dank ans Zimmer 16 für die tatkräftige Unterstützung. Wir freuen uns auf die 120. SoNochNie-Lesebühne am 26. März 2018. Elmar Grüber wird uns dann wissen lassen, was es mit Liebe, Tod und Teufel so auf sich hat. Bis dahin: schreiben, schreiben, schreiben …

Würfelquall‘ und Weihnachtsmann tanzen wild auf dem Vulkan

Ja, der Bogen dieser November-Lesebühne war in der Tat weit gespannt und das Publikum zu unserer Freude auch reichlich erschienen.

Locker anmoderiert von Leovinus übernahm unser Themenbeauftragter Dimitri die erste Reim- und Tanzposition: poetische Sprachbilder in mehreren Gedichten, denen er mit vollem Körpereinsatz zusätzlich Ausdruck verlieh. Das Thema ausgesetzt mäanderte darin recht lose von ausgesetzt werden zu etwas ausgesetzt sein. In Die Baumdeutung war da zunächst ganz allein in einer Hausecke ein Baum, dem es wohl an Verwurzelung fehlte. „Trösterchen: Wer keine Wurzel hat im Boden, den kann keiner jemals roden.“ Wie wahr. Und auch wie traurig. Heiter ging’s weiter mit einer Rhapsodie in Grün auf die oft geschmähte Leuchtstoffröhre, die auch bei Dimitri nicht gut wegkam: „das Ohr durchsticht es, der Schrei des Lichtes“. Vom dritten Gedicht topfit houserunning ist mir der Schluss hängengeblieben: „Die Römer haben Asterix am Ende besiegt. Gott segne Amorika.“ Im vierten und letzten Gedicht ging es um Unendliche Aufwachungen: „Visionen vertonen, verfließen, verblassen, als qualvoll im Schallwall die Hellsicht ertrinkt.“ Ich kann nicht behaupten, dass sich mir inhaltlich alles erschlossen hat, aber darum geht es Dimitri nach eigener Aussage auch nicht, wichtig sei eher der Rhythmus, der Sog der Sprache, das Gesamtkunstwerk. Und das kam – auf seine exzentrische Art – beim Publikum sehr gut an. Die Themenbeauftragten-Urkunde war ihm jedenfalls sicher.

Das Los wollte mich, Angela, schon als Zweite am Lesetisch sehen. Mitgebracht hatte ich diesmal den Anfang eines neuen Kinderbuchs, in dem Vulkane eine besondere Rolle spielen. Mehr will ich hier inhaltlich gar nicht verraten. Zu meiner Freude fand das Publikum den Text spannend genug, um sich für die Fortsetzung zu interessieren. Ein paar interessante Hinweise durfte ich außerdem mitnehmen.

Als letzter Lesender vor der Pause trug Herr Schmidt, Bühnendebütant, nicht nur bei uns, seinen Text vor. Einigkeit, die war im Stil eines inneren Dialogs verfasst und eher für die Leserbriefecke in der Zeitung gedacht denn als literarischer Text. Ausgehend von der Krux eines Bewerbungsgesprächs, in dem sich jeder verstellen müsse, gelangte der Autor zu einer persönlichen Abrechnung mit allen machtsüchtigen Herrschern im Allgemeinen und Robert Mugabe im Besonderen. Das Publikum fand die Argumentation mehrheitlich nicht so ganz schlüssig.

Nach eindringlicher Werbung für den Posten des Themenbeauftragten im Januar entließ Leovinus uns in die Pause. – Sein Aufruf zeigte im Anschluss auch gleich Wirkung, denn es meldeten sich sogar zwei Anwärter. Nicht ein Bewerbungsgespräch, sondern das Los entschied. Es fiel auf Wolfgang, der nun bis Januar thematisch An der Wegkreuzung steht. Mario darf sich gern wieder um den Februar bewerben.

Matthias setzte die Leserunde mit einem todtraurigen Freeze fort. Eine Frau, deren Sohn vor acht Jahren ermordet wurde, streift seitdem ruhelos durch Berlin, um den Mörder zu finden. Im Kopf immer die Vorstellung: „Dieser Mann lebt wahrscheinlich ein ganz normales Leben in der Stadt.“ Doch statt des Mörders findet sie in ihrer wirren Fantasie nur noch einmal den toten Sohn am damaligen Tatort. Aus der Endlosschleife des Verlusts scheint es kein Entrinnen zu geben. Das Publikum war größtenteils sehr berührt. Bei aller Anerkennung für den flüssigen Erzählton fühlte ich mich selbst zu betroffenheitsdrüsengedrückt. Für mich blieb der Text – auch weil bar jeder Recherche – an der Oberfläche dieses tiefgreifenden Themas.

Mario alias Herr Rauschebart gab zwei Anekdoten aus seinem geheimen Leben als Weihnachtsmann zum besten. In Kufenbruch im Bürgerpark entspinnt sich zwischen ihm und dem Vater des zu bescherenden dreijährigen Dustin anhand des Weihnachtsmannschlittens ein handfester Streit über seine, also des Weihnachtsmannes, Echtheit. Was macht der Weihnachtsmann im Sommer? Schlitten reparieren, unersättliche Rentiere durchfüttern und Urlaub natürlich. Vielleicht sogar auf dem Campingplatz um die Ecke. Falls er dort erkannt würde, verbat er sich vorsorglich schon mal dumme Fragen. Tiefgang war hier gar nicht angestrebt, vielmehr kurzweilige Unterhaltung. Und das hat gut geklappt, fand das Publikum.

Wolfgang beschloss den Abend mit Käpt’n Sharky, dessen Büro nur zehn Sekunden pro Woche besetzt ist. Der rhythmisierte Text: eine wilde Tour de Force durch die Vergnügungen der Unterwasserwelt mit ihren skurrilen Charakteren, allen voran die Würfelqualle. Trotz kleiner Längen war das Ganze so absurd, dass es schon wieder cool war, bemerkte eine Dame aus dem Publikum sehr treffend.

Die nächste offene Lesebühne SoNochNie wird übrigens am ersten Weihnachtsfeiertag – ja, wirklich! – also am 25. Dezember 2017, wie üblich um 20 Uhr im Zimmer 16 stattfinden.  Bei der Gelegenheit: Danke an das Team vom Zimmer 16 für alle Unterstützung! Themenbeauftragter im Dezember wird der freundliche Japluap sein, das Thema … ähm … Moment mal, hab’s gleich … ach ja, Alzheimer.

Wer sonst noch einen illustren Themenvorschlag sucht, wird vielleicht in der November-Trommel der ausgesetzten Lose fündig: rumkugeln mit Rumkugeln, Fremd gehen, Extreme, La Palma, Toilettengesang, Krach, Verfrauen, Exklusivität, eine kontraprekäre Situation, Familie/Freunde, COOL, Zeitkrümmung, Die Kranke und der Beschützer, Wasserstoffperoxyd und – nicht zuletzt – Wolfgang. Vergnügt euch!

Einen stimmungsvollen Advent und kommt zahlreich wieder, wenn der zweite Festtag ruft!

 

 

 

 

 

7 auf einen Streich – Hallelujah!

… aber lasst uns das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Leerreich war dieser Jubiläumsabend zum 50. Themenbeauftragten am 24. April 2017 im Zimmer 16 allemal, und er gehört nicht weggekärchert aus der nach vorn offenen Geschichte von SoNochNie. Geflucht wurde weder auf der Bühne noch im Publikum, was dem feierlichen Anlass nur angemessen war, und auch die sonst gelegentlich zu beobachtende Pausenflucht blieb trotz einer textlichen Leerstelle unmittelbar davor erfreulicherweise aus. Nachdem im zweiten Teil geklärt wurde, wer wen im Bus gesehen hatte und ob Wunderwerke der Technik wirklich immer so wunderbar sind, entfuhr uns allen ein erleichterter Stoßseufzer: Geschafft – Hallelujah!

Das war’s schon? Halt, dazu gibt’s doch noch viel mehr zu sagen! Zum Beispiel, dass unser treues Publikum das Zimmer 16 gut gefüllt und uns die Crew des Hauses mit Licht, Tontechnik und Getränken kraftvoll unterstützt hat – besten Dank dafür noch mal an dieser Stelle! Auch unser Moderator Leovinus ist zu erwähnen. Er hat nicht nur unterhaltsam durch den Abend geführt, sondern zu jedem Text sogar eigens einen Limerick verfasst und vorgetragen. Zwischendichtungen gewissermaßen, die für einige Heiterkeit sorgten. Dokumentiert wurde unser Jubiläum auch: fotografisch von Michael und Ulrike und darüber hinaus erstmals zeichnerisch – eine Premiere, die uns ehrt – vom bekannten Pankower Illustrator Christian Badel – danke sehr! Und schließlich: Was wäre dieser Abend ohne unsere sieben Themenbeauftragten gewesen? Bühne frei – hier sind sie mit ihren ganz unterschiedlichen Texten:

Frank machte wie schon so oft den Anfang. Leerreich lautete sein Thema und Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug der Titel seines Textes. Der Ich-Erzähler trifft in der Oper – Wagners Parsifal wird gezeigt – einen älteren Herrn, der ihm sogleich sein familiäres Problem überstülpt: Die Enkelin Querida will von ihm ein Auslandsjahr finanziert bekommen. Eine Unverschämtheit! Der Erzähler sieht das anders. Er würde Querida das Geld geben, denn allein ihr Bittbrief sei eine Form von Zuwendung und da müsse man mit wachsenden Jahren vom Nachwuchs nehmen, was man eben kriege. Das Argument stützte Parsifal höchstselbst: „Er berührte die Wunde mit dem Speer, der sie einst schlug, und sie heilte.“ Ob das für’s Publikum lehrreich war? Aufgepasst: Leerreich hieß das Thema, und der Hintersinn war durchaus ehrenurkundenwürdig.

Maik fühlte sich vor zwei Monaten mit dem Thema Kärcher gut versorgt und brachte mit zwei kurzen Gedichten unsere 15-Minuten-Literat-Uhr nicht mal ansatzweise in Sandnot. Das erste, schlicht Kärcher genannt, begann „Signalgelb auf Schwarz“ und befasste sich mit der von eben jenem Gerät unterstützten beruflichen Reinigung. Privat zog der Dichter allerdings den guten alten Scheuerlappen vor. Aber Kinder müssen doch … raus, sagst du, stellte das zweite Gedicht fest, in dem gefährliche Autos auf der Straße als kärchernde Kinderfresser lauern und der Dichter sich besorgt an gute alte Sicherheiten erinnert: „Zu meiner Zeit wurden wir als Kinder noch an ganz kurzer Leine gehalten.“ Auch an Maik ging dafür die Ehrenurkunde.

Ulrike, extra aus Chemnitz angereist, hat sich beim Thema Fluch und Flucht für die präzise Seelenerkundung einer Juliane entschieden, die sich von klein an innerlich als Julius fühlt und nach einem langen, schwierigen Weg per Geschlechtsumwandlung auch äußerlich zu ihrer wahren Identität – nun als Julian – findet. „Juliane, das ist mein erster Name. Der erste Vorname meines ersten, falschen Lebens“, lud Ulrike uns in ihren Text ein. Von einer Kindheit voller Schreie, erst lauter, später stummer, war die Rede, von mit Binden abgeschnürten Brüsten und Eltern, die ihre Tochter für lesbisch hielten. Vom Fluch, im falschen Körper zu stecken und der Frage, wann die Flucht begann: als sie ihre Puppe vernachlässigte, im Kindergarten den Jungs nacheiferte, die ersten Tabletten schluckte? Und schließlich die Erkenntnis, dass es eben doch keine Flucht war, sondern eine Befreiung. „Und zum ersten Mal kann ich mir selbst in die Augen schauen und Ich sagen. … Eine Vergangenheit habe ich nicht, aber ich habe mich, und das hat ja wohl lange genug gedauert.“ Danke, Ulrike, für diesen berührenden Text! Die Ehrenurkunde versteht sich von selbst.

Michael, mit zehn Einsätzen der Rekordhalter unter den Themenbeauftragten – Glückwunsch dazu! – lieferte, mit der Vorbemerkung, er probiere gern neue Sachen aus, in lyrischer Prosa eine Leerstelle. „Fast ist es noch Nacht heute Morgen“, begann sein Text. „Wir sind nicht zu Hause angekommen. Ich nicht und du nicht.“ Und da deutete sich schon an, welch bedrückendes Thema er gewählt hatte: den plötzlichen Tod. Lebend zur diesseitigen Tür des Krankenhauses hinein, tot zur jenseitigen hinaus. Dazwischen die unfassbare Feststellung „Du bist verschwunden. Ist das alles, was du bist?“ Wie kann ein Abschied gelingen, wo man doch nur mal eben kurz auf den Schlüssel aufpassen sollte? „Was mache ich … … … mit dem Schlüssel?“, bleibt der Erzähler rat- und fassungslos zurück. Das Experiment? Die Pausen, die Michael beim Lesen ließ. Inhalt und Form Hand in Hand. Gut, das du gern Neues probierst und uns daran teilhaben lässt! Die Ehrenurkunde ist dein.

In der wohlverdienten PAUSE wurden fleißig Themenzettel beschrieben, aus denen anschließend nur ein einziger gezogen wurde. Augenaufschlag wird das Juni-Thema von Cordula sein, die sich zum ersten Mal mutig dem Auftrag stellt. Im Lostopf blieben folgende Themen zur freien Inspiration für alle anderen (in Original-Schreibweise übernommen!): Ein echter Fiesling, FUSSSTAPFEN, Lichtgestalten, STEINLAND, Schneckentempo, Joachim, Heilbronn, Kiez König for ever!, Tee-Nager, Das Gummiband, Stadien der Wehmut, Zieh ihn bitte wieder raus!, SCHEE IM JUNI, Sturzgeburt, Kontrollverlust, Themenbeauftragte., Buttersäure.

Auch nach der Pause erwartete uns ein Experiment: Max wurde per Handy live aus Braunschweig zugeschaltet, während sein zweidimensionales Konterfei hinterm Lesetisch posierte. Passend zum Thema Ich habe dich im Bus gesehen untersuchte Max Sehgewohnheiten: „Ich habe mich im Spiegel gesehen. Ich habe mich im Schaufenster gesehen. Ich habe mich in der S-Bahn-Scheibe gesehen.“ Auch bei ihm eine Erkundung zwischen Ich und Du. „Ich habe mich verpasst. Wir trafen uns nicht in der Mitte“, schloss er seinen vieldeutigen, melancholischen Text und bekam dafür … na? … eine Ehrenurkunde.

Wunderwerk der Technik war Thema und Titel meiner (Angelas) Geschichte. Isa, die sich in ihrem überschaubaren Leben als Lokalredakteurin eingerichtet und darüber vergessen hat, dass sie mal eine berühmte Radiojournalistin werden wollte, erinnert sich dank einer SPLIFF-Schallplatte auf dem Flohmarkt ihrer ersten großen Liebe Philipp, seinerzeit E-Gitarrist mit dem Zeug zum Star. Nicht nur die große Liebe, schon der erste Kuss scheiterte an unüberbrückbaren Differenzen im Musikgeschmack, denn Isa stand auf ABBA. Aus einer Laune heraus schickt sie Philipp die Platte und … bekommt einen MP3-Player zurück, auf dem sich ABBA und SPLIFF im trauten Duett finden. Wäre das nicht auch eine Option für sie beide?, stellt Philipp in den Raum, als er vor ihrer Tür auftaucht. Nein, er ist kein Rockstar geworden. Und nein, sie hat den Pulitzer-Preis noch nicht gewonnen. Aber … ist es wirklich schon zu spät für ihren alten Traum? Isa verzichtet auf das Wunderwerk der Technik, das sie beide vielleicht doch noch hätte vereinen können und wagt ein ganz untechnisches Wunder: den Neuanfang. Auch dafür gab’s die Ehrenurkunde.

Zuletzt entführte uns Leovinus mit Hallelujah ins Reich seiner schrägen Phantasie. „Sagen Sie, junger Mann, wo drücke ich denn, wenn ich in den Fünften will?“, erkundigt sich ein mysteriöses altes Mütterchen im Kaufhaus und bietet dem Erzähler Kirschkuchen an. Weil der ablehnt, wünscht sie ihm ein Halleluja in den Bauch. Das muss rausgeschnitten werden, sagt der Arzt. Der Erzähler sträubt sich, denn die Alte hatte ihn gewarnt: Wenn Sie es rausschneiden lassen, holt Sie mein Sohn! Als der Geplagte aus der Narkose erwacht, ist er wieder im Fahrstuhl. Neben ihm ein Junge mit leuchtend blauen Augen, der die Sense schwingt. Auf alte Mütterchen ist eben Verlass. Und auf die Ehrenurkunde auch.

So, das war’s jetzt aber wirklich zu diesem rundum gelungenen Jubiläumsabend! Nein, doch noch nicht ganz? Ich höre, da freut sich schon die nächste offene Lesebühne SoNochNie am 22. Mai 2017 auf frische Texte und reichlich Publikum. Also: Seid wieder dabei!

… und dann so was!

Kein Trump, keine Merkel!, bat Moderator Leovinus zu Beginn unserer 104. offenen Lesebühne SoNochNie, die an diesem 28. November 2016 ungewohnt pünktlich begann. Sechs AutorInnen hielten sich strikt daran, die siebente nicht. Was für ein Schock!

02_s0056305Wie üblich begann alles mit dem Beauftragtenthema: „Kassenarzt“, von Petra fantasievoll ausgestaltet. „Überall Zahlen“ hieß ihr Text, in dem ein gewisser Dr. Stöhr von einer ebenso fischnamigen Patientin Frau Plötz dazu bewegt wird, sich wieder mehr den Menschen zu- und von den überall herumwabernden Zahlen abzuwenden. Zu diesem Zweck trägt er s04_s0146352eine Patientenzahlenregistrierkasse auf den Gehsteig und reinigt nebenbei seine Praxis mit einem ausgeklügelten System von der Zahlenflut. Die Herrschaft der allumfassenden Kasse stellt er nicht in Frage, doch der Versuch, den Menschen hinter den Zahlen wieder näher zu kommen, sei ihm hoch angerechnet. Ein Schelm, wer Parallelen zum realen System ausmacht. Alles in allem eine verblüffende, originelle Idee, mit dem Auftragsthema umzugehen, befand die anschließende Diskussion. Um unsere großartige neue Urkunde und das zugehörige Foto kam Petra natürlich nicht herum.05_s0166361

Auf Petra folgte Matthias mit „Begegnungen am Stadtrand“. Ein älterer Mann auf dem Weg zum regelmäßigen Golftraining, ein junger Rumäne, der von seiner anstrengenden ‚Dienst-am-Kunden‘-Nachtschicht zurückkehrt und ein sechsjähriges Mädchen auf der Suche nach einem Weggefährten. Kurze Begegnungen am Rande der Stadt. Stimmungsbilder wollte er zeichnen, sagt Matthias, und das ist ihm nach Meinung des Publikums auch gut gelungen.

07_s0246400Mit Anita begann der Advent im Zimmer 16. Ihr gleichnamiger Text erzählte ganz aus der Perspektive einer alten, vermutlich dementen Frau auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Einfühlsam und stimmig, wie die Mehrheit der Zuhörer fand. Ob es die Auflösung mit dem Tod der Dame und damit den Sprung aus der Subjektiven gebraucht hätte, blieb allerdings umstritten.

Kurios, dass sich das Los gleich darauf noch einmal für den Advent und damit für meine11_s0346461a Kurzgeschichte entschied, in der eine Zehnjährige in der Vorweihnachtszeit versucht, einen Zugang zu ihrem depressiven Vater zu finden. Ein schweres Thema, das ich dennoch gern für Kinder erzählen wollte. Die große Mehrheit der Zuhörenden hielt das für zumutbar und – gerade wegen der poetischen Bilder – auch für gelungen.

Dann war erst mal Pause. Wie üblich wählten wir unmittelbar davor den Themenbeauftragten, und zwar für die Januar-Lesebühne. Glückwunsch, Frank, du wirst ein weiteres Mal in die Annalen der SoNochNie-Geschichte eingehen. (Vermutlich hat dich die Urkunde gelockt.) Wir sind gespannt, was du aus Thema Nummer eins: „Ausgebrochen“ machen wirst.

Wer noch eine Anregung für den nächsten eigenen Text sucht – wie wär’s mit: „Banderole“, „In eine Melancholie muss man sich fallen lassen“, „Lawine“, „Rachebeschleunigung“, „Kurzschrift“, „Ja!Jaguar Jan!UAR!“, „Tortenschlacht“, „Das … Ende guter Vorsätze“, „Leichtmetall und Schwermut“ und „Aufweichung“. Los geht’s!

Im April 2017 feiern wir übrigens schon wieder ein Jubiläum: den 50. Themenbeauftragten. Dazu werden wir uns natürlich etwas ganz Besonderes einfallen lassen und euch an dieser Stelle weiter auf dem Laufenden halten.

13_s0516602Nach der Pause hat uns Frank wieder einmal in seinen Roman „Der Richter und der Fluch der Furie“ hineingezogen. Der Ausschnitt begann ein wenig trocken, weil schwarz- und rothaarlastig, entwickelte sich aber zunehmend konfliktreich und spannend. Die junge Tadschikin Summaya, die sehr erfolgreich Kleider entwirft, erzählt ihrer Kollegin und Freundin Marjorie auf dem Weg zum Markt aus ihrem früheren Bürgerkriegsleben und wartet dringend auf einen Anruf. Doch auf einmal muss sie umkehren und sich, so die Vermutung, den Geistern ihrer Vergangenheit stellen. Das Publikum war voll dabei.

Ungewöhnliches bot diesmal Wolfgang mit einer echten Geschichte, die uns anfangs alle zu Lachstürm15_s0566656en hinriss, im zweiten Teil aber etwas zerfaserte. Es ging um einen Autor, der, weil die angepeilte Lesebühne nicht stattfand, ersatzweise im Supermarkt vorlas – mit durchschlagendem Erfolg. Gute Unterhaltung, fanden wir, aber für die Wirkung bis zum Schluss: entweder früher raus oder nochmal überraschend drehen.

Zuletzt betrat Katharina die Bühne mit ihrem „Text zur (Rücken-)Lage“. „Wenn ich sterbe, möchte ich warme Hände und Füße haben“, so der private Rahmen zur öffentlichen Hinterfragung. In w18_s0666770as für Zeiten leben wir eigentlich? Warum gehen uns die Despoten und Schwarzweißlinge nicht endlich mal aus, im Gegenteil? Und da platzte er dann tatsächlich in den Abend, Donald Trump. Schreckensstarr beobachteten wir Leovinus. Würde er das überleben? Er tat’s. So konnten wir uns entspannt auf diesen doch auch sehr persönlicher Text einlassen. Vielleicht hätte Caligula als Dämon genügt und Trump wäre verzichtbar gewesen, denn beide ähneln sich im nicht Ertragen eines jeden „Dazwischen“, das uns Autoren praktisch die Luft zum Atmen ist. In diesem Sinne: Auf das Dazwischen und alle zukünftigen Lesebühnentexte die ihm weiter nachspüren!

Danke wieder einmal, Michael, für die Fotos zu diesem feinen Abend!

Leovinus machte abschließend Werbung für unsere SoNochNie-Kerngruppenlesung am 8. Dezember 2016 um 19.30 Uhr in der Janusz-Korczak-Bibliothek Berlin-Pankow. Kommt am besten alle dort hin und brecht mit uns zu neuen Ufern auf!

Und am 26. Dezember (ja, ganz richtig, das ist der zweite Weihnachtsfeiertag) sehen wir uns dann wieder im Zimmer 16 und freuen uns auf unseren Themenbeauftragten Matthias.

Neun Anfänge

Willkommen in Schulau! Eine alte Schwarzweißfotografie, entstanden vermutlich in den frühen 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Sommer nahm in diesem Jahr kein Ende. Erwachen, Augen auf, Füße kalt. Sie begegneten sich nackt im Flur vor der Wand, an der die Marionetten aufgehängt waren. Meine vermeintliche oder wahrscheinliche große Liebe, das hier schrieb ich nur für sie. Kommst du? Ich habe ein unzerstörbares T-Shirt. Jetzt ziehen wir ans Meer.

Ja, das sind sie, die ersten Sätze aller neun Texte unserer 102. offenen Lesebühne SoNochNie, wenn auch in veränderter Reihenfolge! Stimmt, sie passen nicht wirklich zusammen und doch war das ein wunderbar reicher, runder Geschichtenabend. Stimmt auch: Wir haben eine Ausnahme gemacht. Mehr als acht Texte sind streng genommen nicht zulässig, aber sogar der Sommer lehnt sich in diesen Tagen noch einmal weit aus dem Fenster. Warum sollten wir da nicht ebenso großzügig sein?

Alles begann mit Leovinus‘ charmanter Anmoderation (zwei Stichworte zu jedem Text lieferten das Material), kleineren Stoßseufzern wegen der Lichttechnik, vielen vertrauten und einigen neuen Gesichtern.

Dann sang Michael als Themenbeauftragter seine kraftvolle Hymne aufs Trennungsglück. Nein, nicht auf das klassische am Ende einer quälenden Beziehung. Seine Protagonisten waren zwei unzerstörbare T-Shirts, ein blaues und ein graues, mit denen er seit zwanzig Jahren sein Leben teilt. Da kommen zwangsläufig Fragen an die gemeinsame Zukunft auf. Wann werden sich ihre Wege trennen? Was gar, wenn die beiden ihn überleben und beispielsweise im 73. Jahrhundert von fassungslosen Archäologen wie neu aus einer meterdicken Sedimentschicht geborgen werden? Aber vielleicht, vielleicht gehen sie bis dahin ja doch noch kaputt. Witzig und dennoch von existenzieller Tragweite – das Publikum war begeistert und machte sich höchstens ein paar untergeordnete Sorgen über die Gleichberechtigung von Blau und Grau. Vom angekündigten „kontrollierten Absturz“ konnte keine Rede sein.

Katharina, inzwischen schon Wiederholungstäterin, fand im sanften Sanduhrrieseln sogar Platz für zwei Geschichten. Und in denen ging es nun ganz explizit um Beziehungen. Sie wird von ihm zu einem konspirativen Treffen in eine leere WG gelotst und erfährt dort, dass er auf keinen Fall eine Beziehung will, aber dieses eine, eine Mal noch, das wäre doch schön. Ich habe Gefühle, er hat Bedingungen, stellt sie kritisch fest, bevor sie lustvoll für 45 Minuten in seinem Bett landet. Intensiv, fanden viele, während andere sich mit dem beurteilenden Ton nicht wohlfühlten und eine Diskrepanz zur behaupteten Leidenschaft ausmachten. Gut, wenn man über Texte streiten kann.

Tim, der mit vollem Namen Tim Kölling heißt, schrieb seine poetryslamige „Letzte Chance“ nicht zum Selbstzweck, sondern um eine junge Frau zu erobern, die er nur einmal bei Radio Bremen 1 gesehen hat und die seine ganz große Liebe werden könnte. Das allerschönste Mädchen sei sie, die „Abrissbirne für’s heruntergekommene Manegenlicht“. Mutig, befand das Publikum. Wer weiß, vielleicht liest sie das ja und meldet sich?

Petra erzählt in „Der rote Mantel“ die Geschichte über die Ränder einer alten Schwarzweißfotografie hinaus, auf der ein Mädchen mit eben jenem Mantel sich aus einer Schlange von Wartenden löst und dadurch vermutlich ihr Leben rettet, aber nicht nur das. Geheimnisvoll fließend und voller Assoziationen – einige hätten den Text gern ein zweites Mal gehört. Anderen fiel der Zugang eben wegen dieser Rätselhaftigkeit schwer und sie wünschten sich am Ende mehr Aufklärung.

„Ans Meer“ habe ich, Angela, meinen eigenen Text genannt, in dem eine 14jährige ums Weiterleben ringt, nachdem ihr Vater den Notausgang aus seinem Leben gewählt hat. Authentisch, bewegend und in der Sprache erfindungsreich, befand das Publikum. Ob noch mehr Trotz und Härte im Ton nötig gewesen wäre, darüber gingen die Meinungen auseinander.

In der Pause meldete sich Petra freiwillig als Themenbeauftragte für den November. Das erste Los-Thema „Fantasie und Wirklichkeit“ lehnte sie dankend ab, weshalb sie sich nun mit dem „Kassenarzt“ herumschlagen muss.

Frank setzte die Leserunde mit dem neuen ersten Kapitel aus seinem Roman fort. Klaus und Diana nackt im Flur unter aufgehängten Marionetten im Streitgespräch. Atmosphärisch dicht und das umfangreiche Personal mit den Puppen geschickt vordeutend fing Frank sein Publikum ein, auch wenn manche erst im Lauf der Zeit Fuß fassten im Gehörten.

Clemens sorgte mit CD-Player, Kerze und „Grenzwertigkeiten“ für eine besondere Stimmung, obwohl und gerade weil ihn die Tücken der Technik vorübergehend unter den Tisch trieben. Sein Text handelte von Birken, „bekanntlich den Mädchen unter den Bäumen“, Neubaublocks im Osten Berlins mit viel Grün dazwischen und einer Ljuba, die in ihrer Abwesenheit beim Ich-Erzähler melancholische Schwere erzeugt. „Wenn es soweit ist, werden wir es wissen: Es kommt immer anders als gedacht.“, intoniert „Die Heiterkeit“ zum Schluss eindringlich. Ein Text mit starken Bildern. Nur langsamer vorlesen hätte ihm gut getan.

Wolfgang nahm uns in „Willkommen Höft“ einmal mehr mit auf die Achterbahn seiner Assoziationen, denen eine improvisierte Minitrommel mal Rhythmus gab und mal Kontrapunkt war. Schön absurd die Schiffsbegrüßungsstation außerhalb von Hamburg, auf der in den 50ern bei jedem einlaufenden Schiff noch gesungen wurde. Begrüßungskapitäne, die in ihrer historischen Reihenfolge namentlich genannt wurden, ein Buddelschiffmuseum und Helmut Schmidt samt Lebensgefährtin bildeten die illustren Säulen dieses Textes.

Zuletzt Johanna. Sie las aus dem zweiten Kapitel ihres Romans. Ihre Protagonistin: eine Philosophin, die ihre Dissertation vor Kant, Hegel (mit der obligatorischen Rotweinflasche) und Fichte persönlich verteidigen muss. Erfolgreich, nebenbei bemerkt. Der anschließende, eigentlich banale Supermarkteinkauf gestaltet sich da um Längen schwieriger und die beste Freundin, Assistenzärztin, hat auch keine zusammenhängenden fünf Minuten fürs Telefon. Es knirscht also im Gebälk dieses Tages. Eine Stimme aus dem Publikum empfand den Text zu stark als Nacherzählung persönlichen Erlebens, andere wiederum schätzten genau das.

Und dann war sie auch schon zu Ende, die 102. offene Lesebühne SoNochNie. Mal heiter kurzweilig, mal ernst bis traurig und immer intensiv – besser können wir es uns nicht wünschen. Gespannt blicken wir nun schon mal Richtung 24. Oktober, wenn uns die Themenbeauftragte Katharina mit „Gift oder“ hoffentlich nicht kaltstellen wird. Wer noch Inspiration für einen eigenen Text sucht, der wird vielleicht unter den diesmal nicht gelosten Themen fündig: Auf den Spuren der Elche, Trunksucht, Gespenster, Zickenterror, spät dran, Leisesprecher, Unterwegs, Handlungsanweisung, ohne Fleiß kein Preis, Goldrausch, schweißtreiben(d). – Bedient euch und kommt wieder!

Der Sprengmeister wird uns was hüsteln

S0032021Was für ein Jahresauftakt! Acht Autoren stürmten die Bühne der 94. Offenen Lesebühne SoNochNie. Leovinus, der den Abend moderierte, outete sich zugleich als Themenbeauftragter und ließ seinen Nachbarn kurz und knapp durch drei Gedichte hüsteln. Streng Haiku-klassisch im ersten mit fünf–sieben–fünf Silben, ich glaube, ich darf das hier zitieren, bevor es in die Lehrbücher unserer Kinder eingeht:

Durch dünne Wände                                                                                                        das Hüsteln des Nachbarn,                                                                                              der Winter dauert.

Limerick und Sonett umkreisten zur allgemeinen Erheiterung selbiges Thema, und die Frage kam auf, ob sich Leovinus nun das ganze Jahr mit seinem erkälteten Mitbewohner herumschlagen wolle und so vielleicht gar ein Hustenbonbonhersteller als Sponsor für die Offene Lesebühne zu gewinnen wäre.

S0052037aDas erste Los trug meinen Namen, also schilderte ich, Angela, als zweite Lesende des Abends, Ursachen und Folgen eines Unfalls, der keiner war, jedenfalls nicht ausschließlich. Das Publikum ließ sich offenbar von der Spannungsfrage Warum nicht? mitnehmen und befand meine Geschichte für ideenreich und ziemlich rund.

S0112088Monique saß zum ersten Mal auf unserer Bühne und bot in süffiger Sprache drei Fragmente einer Kurzgeschichte, die sich allesamt um Madeleine drehten, die wiederum in einem Territorialkonflikt mit einem gewissen Lennart (und eventuell auch Männern im Allgemeinen) feststeckte, aber Willens war, sich daraus zu befreien. Das Ende lässt uns zumindest für sie hoffen. Vielleicht hören wir irgendwann mehr davon.

S0142109Vor der Pause erfreute uns Petra mit einem weiteren Einblick in ihre surrealen Fantasien. Ein Beamter, der ein Lastenfahrrad samt zugehörigem Mädchen beschlagnahmt, weil auf dem Gefährt folgende Losung steht: Die Blockade unbedingt sprengen! So was gehört bestraft, da hilft alles Schrumpfen nix! Zum Glück bringt der Sprengmeister und wahre Besitzer des Rades schlussendlich sämtliche Blockaden zum Einsturz und das Mädchen zurück in die Arme seiner Mutter. Größe ist eine Frage der Anerkennung, lernen wir.

S0192144Unter dem Titel Das Trugbild setzte sich nach der Pause auch Gerhard mit einem Unfall auseinander. Leo trägt seit Kindertagen an einer schweren Schuld, hat er doch Feuerwerkszeug in eine Wohnung geworfen und dadurch einen Brand ausgelöst, bei dem ein kleines Kind starb. Nach seinem Unfall auf Kreta glaubt er, in der Klinik die Mutter des Kindes wiederzuerkennen, beichtet ihr sein quälendes Geheimnis und wird mit einem Kopfnicken endlich losgesprochen. Wirkungsvoller hätte das kein Therapeut hinbekommen. Was spielt es da noch für eine Rolle, dass Kopfnicken im Griechischen Nein bedeutet?

Wahlzeit. Als sich trotz Bitten, Drängen und Drohen kein freiwilliger Themenbeauftragter für den März fand, erklärte sich Michael wieder einmal bereit dazu, danke, Michael! Das Thema Revolution war dir vielleicht zu wenig subtil, jedenfalls musst du dich nun um die Begleitung des Rauchers kümmern. Ich bin sicher, du wirst uns auf ganzer Linie überraschen.                                                                                       Falls sonst noch jemand eine Anregung für seinen nächsten Text sucht, fasse ich hier die Erträge der übrigen Themenzettel zusammen:                                                      Schlaflos zwischen den Stühlen versucht Lolita, die Apfeltasche, Worte zu pressen, doch der kausale Zusammenhang zwischen Bierpinsel, dementer Gürtelschnalle und Ameisenpisse reicht höchstens für ein Gedicht ohne Titel.

S0262252Im Anschluss bot Wolfgang uns eine Performance der Abkürzungen. Der LBG RFR (Lauenburger Rufer), eine Bronzestatue aus den späten 50ern, beamt sich vom Ufer der Elbe, wo er Johnny Lytles The Village Caller hört, nach NKLN (Neukölln), ruft dort mit Jana und Wolf den Rap der Wildnis aus und springt weiter nach Alaska zu Jack London. Mit hohem Tempo entführte Wolfgang uns in sein Universum assoziativer Bezüge, und Michael befand: „Hier sitzt der Sprengmeister persönlich am Tisch.“

S0302291Marcel verweigerte 19jährig den Bund mit der Begründung, er könne kein Blut sehen und landete folgerichtig als Zivi auf der Inneren eines Krankenhauses, wo er weit mehr zu sehen bekam als nur ein bisschen Blut. Heute, doppelt so alt, befreit er sich schreibend von Bildern mit komischem Reiz und solchen, die man lieber auf keiner Festplatte gespeichert haben möchte, schon gar nicht im eigenen Kopf. Das alles in knapper, pointierter Sprache und nie auf Kosten seiner ehemaligen Patienten.

S0352325Zuletzt erheiterte uns Robert mit einem kurzen Intermezzo als Fernbedienung eines Rentners, der altersgerecht am ersten Programm klebt, während seine beingelähmte Fernbedienung auf die Simpsons steht. Zur ersehnten Rache kommt es nur im Geiste, und so lassen wir uns nach reichlich Applaus von tragikomischen Empfindungen erst an die Bar und dann auf die Nachtschweiß ausdünstende Straße hinausspülen – was für ein Abend!

Verflucht nochmal!

Die 87. Offene Lesebühne SoNochNie

01_S0050073Es ist ja oft so: Neuerungen werden eingeführt, weil irgendein alter Schuh drückt. Doch genau in dem Moment, da man sie ganz dringend zu brauchen glaubt, erübrigen sie sich von selbst. Gestern Abend haben wir die Offene Lesebühne erstmalig auf acht Autoren beschränkt. Und wieviele wollten lesen? Ganze sechs. Gelost haben wir trotzdem, weil wir irgendwie doch alle noch kindlich-glücklichen Jahrmarktserinnerungen nachhängen. Nur Frank hatte seinen ersten Platz dank einer gewissen Quadratur des Kreises (sein Beauftragtenthema) schon sicher. Und so konnte Leovinus, der den ersten Teil des Abends moderierte, sämtliche Erklärungen zum neuen Prozedere unter den Lesetisch fallen lassen und direkt …

S0110099… ein neues Kapitel aus Franks stetig wachsendem Roman „So klein mit Hut“ ankündigen. Darin wurden wir Zeugen eines Kammerspiels zwischen Klaus, wegen eines undurchsichtigen Fluchs nur noch stuhlbeinhoch, und seinem Psychologen Herbert, dem ein noch viel undurchsichtigerer Fluch ausgerechnet das empfindlichste Körperteil vereist und ihn damit handlungsunfähig gemacht hatte. Im Dialog zwischen den beiden zum Thema Wie versöhnt man einen Geist? klärt sich der Hintergrund dieser vermaledeiten Fluchkiste auf, und ein Ausweg deutet sich an … wenn da nicht Eis am Stiel und die viel zu hohe Türklinke wäre. Im Ton zwischen Ernst und Ironie gut ausbalanciert hätte der unterhaltsame Text nur gern noch etwas szenischer und seine Protagonisten sprachlich differenzierter sein dürfen.

02_S0150125Weiter gings mit Max, der in den vergangenen Monaten zum SoNochNie-Stammgast avanciert ist. Sein sehr persönlicher Text „Die Schlafenden“, in dem er uns Einblick in seine nächtlich-schlaflosen Assoziationen mit und ohne Bettgefährten gewährte, warf die Frage auf, ob er überhaupt für ein Publikum geschrieben sei. Ich finde schon, allein wegen solcher Sätze wie „Mit geschlossenem Mund konnten alle Menschen ehrlich sein“ oder „Er sah, wie jeder Mann, auch ungeschminkt wie ein Mann aus“ (kann sein, dass ich hier ein oder zwei „ungeschminkts“ unterschlagen habe) oder „Ich hätte jedes Wort dort (in seinen Mund) hineinlegen können, vor allem mein eigenes.“ Gern mehr von solcher Poesie!

04_S0180149Evelyn, neu bei uns, knüpfte mit ihrem Gedicht „Buch mit Nässefluch“ zufällig (aber wer weiß das schon so genau) an Franks Thematik an, nur dass ihre Hauptperson kein Mensch, sondern ein dem wässrigen Untergang geweihtes Buch war. Aus Pulp bist du entstanden und zu Pulp wirst du zurückkehren, da genügt schon ein winziges Leck im Oberstübchen, viel entscheidender ist aber, was du aus deiner Wiedergeburt machst – so die unterhaltsame und sicherlich nicht zufällig allegorische Botschaft. Nur am Versmaß schieden sich die Geister. Wo Evelyn mal fröhlich reimte, mal frei die Worte fließen ließ und damit die allgegenwärtige Knechtschaft lästiger Vorschriften anprangerte, sah manch einer zu viel dichterische Beliebigkeit.

05_S0230183Vor der Pause amüsierte uns Wolfgang mit „Strawberry Wedding“. Karls Erdbeerhof musste diesmal als Zielscheibe seiner assoziativ-sprunghaften, satirischen Stadtbeobachtungen herhalten. Eine überdimensionale, aber völlig leere Erdbeerbude unterliegt zu Recht im Zweikampf gegen Christas Obst. Denn: „Der Wedding ist nicht arm, er hat nur keine Lust, überteuerte Preise zu zahlen.“ Jetzt wisst ihr’s!

06_S0240188In der Pause wurden fleißig Themenzettel gefüllt, und die Idee eines kompletten Themenabends, anknüpfend an sensationelle SoNochNie-Erfolge wie „Erotik“ und „Mordgelüste“ machte die Runde. Anvisiert wurde dafür der November, das Thema ist noch zu finden, sollte aber mindestens ähnliche Zugkraft besitzen wie seine berühmten Vorgänger. Nach der Pause übernahm Lesebühnenurvater Stefan die Moderation und …

07_S0360216… gab Michael die Bühne frei. Mit „Hendrik explodiert“ stellte er uns seinen Text über eine Theaterprobe zu Shakespeares Sommernachtstraum vor, in dem sich Darsteller und Rollen verschiedentlich überlagern und als Schlüssel zur Erkenntnis letztlich nur das (befreiende) Lachen bleibt. „Nachts im Wald passieren unerwartete Dinge“, sagt der Regisseur. Und Michael, Regisseur seines sprachlich wie stets treffsicheren Textes, fragt: Was ist, was erzeugt eine Komödie?

09_S0450240Stefan M., ebenfalls ein neuer Stammleser, der uns gnadenlos als Testpublikum für seine Wochenendlesung bei 48 Stunden Neukölln missbrauchte, beschloss den Abend mit „Die Sprache ist der Feind“. Sprache als Krankheit, mit der man sich infiziert, ohne eine Wahl zu haben, Reisen in ferne Länder dementsprechend als Kuraufenthalte, bis … nun ja, bis man sich auch dort unvermeidbar wieder infiziert – ein reizvolles Gedankenspiel, das in Behauptungen wie „Schriftsteller wird man nicht aus Talent, Schriftsteller wird man aus Unvermögen“ und „Literatur ist eine Form des Ertrinkes“ gipfelte. Was schon im Titel nach einem kulturphilosophischen Vortrag klingt, hörte sich im ersten, dem Sprachteil, noch beispielgefüttert konkret an, driftete aber im zweiten, dem Kunstteil, mehr und mehr in Richtung theoretische Abhandlung. Dennoch fühlten sich die meisten Zuhörer geistig höchst angeregt.

Dankenswerterweise meldete sich Michael freiwillig als Themenbeauftragter für den August. Nachdem er das Thema Leben auf dem Mars leichtfertig ausgeschlagen hatte, muss er nun Krieg und Frieden neu schreiben. Wir dürfen gespannt sein, wie er mehr als 1.500 Seiten in nur zwei Monaten zu Papier und anschließend in nur 15 Minuten zu Gehör bringen will. Eine Mammutaufgabe!

Für alle, die selbst noch ein Stichwort zur nächsten Kurzgeschichte suchen, seien hier die hochkarätigen, aber leider verpassten Alternativen vorgestellt:

Im Sommer in Berlin stolpern schlecht gelaunte Teenager durchs Warenhaus der Ideen, holen sich nasse Füße bei trockenem Kopf, sind noch nie so gebissen worden wie in dieser Sommerfrische, schon gar nicht von einer Spinne, üben sich im Wörter pressen, auch wenn das im Zweifel für den Teufel ist, und wenn ihnen einer dumm kommt, dann sagen sie ganz laut: Du – Du – Du!

Na, wenn das nicht inspiriert …