Die 166. Lesebühne SoNochNie! fand am 28. Februar statt.
Aus traurigem aktuellem Anlass verzichtete der Moderator, Leovinus der Erste, auf die Ausbreitung eines 287. Jahrestages von irgendwas, sondern trug stattdessen die erste Strophe der ukrainischen Nationalhymne vor, auf deutsch selbstverständlich, weil nicht mal Leovinus des Ukrainischen mächtig ist … glaube ich.
Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben,
noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal.
Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne,
und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein.
Nun, weitere sechs Tage später, klingt das alles noch viel trauriger als am Montag.
Ich will es nur kurz hier erwähnen, dass die Ukraine im letzten Jahrhundert eines der gebeuteltsten Völker auf Gottes weitem Erdenrund gewesen ist, vom ersten Weltkrieg an, dann folgte der Bürgerkrieg, dann die große von Stalin angezettelte Hungersnot, dann der Große Terror, und als wäre das nicht genug, fielen die Deutschen ein, dann der Krieg der Nachkriegszeit, und immer waren es Hunderttausende oder gar Millionen von Toten und an Körper und Seele Verwundeten.
Zwei Buchempfehlungen meinerseits zu diesem Thema:
Timothy Snyder „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“
und
Anne Applebaum „Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine“
Beides sehr lesenswerte, wenn auch verstörende Bücher.
So. Einmal schütteln und los geht’s.
Der Themenbeauftragte des Monats war Marcello Stein. Das Thema lautete: „Warum Schreiben“
Um ehrliche Gefühle in edle Worte zu kleiden, wie das alle großen Dichter von Goethe bis Gundermann getan haben, ist Marcellos kurze und bündige Antwort.
Er las Gedichte, verbunden von kurzen Beschreibungen, warum und zu welcher Zeit sie entstanden sind. Aufgeschrieben habe ich mir zwei Zitate: Mein Rucksack voller Sehnsucht wird langsam klein. Und: Freu dich nicht zu früh, sehr geehrter Herr, ich hab noch einen Koffer in der DDR.
Das merkt man, sagte jemand aus dem Publikum. Naja, habe ich gedacht, jede(r) hat noch einen Koffer da, wo er/sie herkommt. So ist das mit uns Menschen. Und manchem bleibt die Heimat für immer, und manche(r) muss sich eine neue suchen, was nicht jedem/jeder leichtfällt.
Überleitung Leovinus:
Wer schreibt, der bleibt, das sagt man so, ich frage mich nur manchmal, wo?
Nach diesem launigen Bonmot zog er Gudrun Sonnenberg aus dem Hut, also einen Zettel, auf dem ihr Name stand.
Ihr Text hieß „Die Lieder“. Er handelte von zwei Straßenmusikanten, Lisa und Theo, die in kleinen Orten spielten an hoffentlich grauen Tagen, und die einen Geigenkoffer mit rotem Fellimitat vor sich legten zur Aufnahme der finanziellen Zuwendungen des geneigten Publikums. Der Koffer musste regelmäßig bis auf ein paar Münzen geleert werden, denn wenn zu viel drin lag, gaben die Leute nichts mehr.
Sie spielten alte, fast vergessene Lieder wie z.B. Ännchen von Tharau, was im oft verschämt in sicherer Entfernung lauschenden Publikum manchmal eigenartige Reaktionen hervorrief, Erinnerungen an den Führer und dass er die Juden doch gar nicht habe umbringen wollen, oder an einen Bruder, der im Krieg geblieben war. Manchmal dachten Lisa und Theo, dass sie die falschen Fans hatten. Aber da muss man, sage ich, als Künstler drüberstehen, man denke nur an Thomas Anders von Modern Talking, der seine größte Fanbase in Russland hat. Und mal ehrlich: wer Thomas Anders‘ Konzerte besucht, kann kein schlechter Mensch sein.
Leos Überleitung:
Hör ich Musik auf meinen Wegen, dann scheint die Sonne auch bei Regen.
Die dritte Lesende war Petra Lohan, sie führte uns mit ihrem Text „Risse im Putz“ in ein Verwirrspiel aus Licht und Schatten auf einer Wand vor dem Fenster, eine Wand, auf die die Protagonistin seit zwanzig Jahren schaut, und die ihr den Ausblick versperrt, offenbar aber die Phantasie anregt. Plötzlich ist da ein Schatten, das Bild eines Balkons mit Dame an einem Geländer, Sektglas in der Hand, und dann ein Mann mit Tüten an einer Strickleiter. Muss was Kriminelles sein, weil zu diesem Schattenspiel gesellen sich plötzlich Hubschrauber, die das Licht ihrer Scheinwerfer gnadenlos in den Hof schlagen. Schüsse. Am nächsten Tag Im Park traf sie ein älteres Paar, Drahtgestell mit Postkarten, Schattenspiele. Nie auf Schatten schießen, denkt sie und: der Mensch ist dem Mensch ein Schatten.
In der Diskussion zum Text kam noch die Erläuterung, dass die Polizei durch ein Schattenspiel ausgetrickst worden wäre. Außerdem muss hier noch eine Auflösung nachgereicht werden. Die Mehrzahl von Ahorn lt. Duden ist nicht A-Hörner, sondern Ahorne.
Leovinus leitete dann über mit:
Selbst wenn die Wand den Ausblick stört, man Vieles noch vom Nachbarn hört.
Er kündigte unsere zweite Anthologie „Unten ist noch Glut“ an, die anlässlich des 13-jährigen Bestehens unserer Lesebühne dank des Engagements von Michael im März erscheint. Wir freuen uns sehr darauf.
Und zog den Namen Katharina Körting aus dem Lostopf. „Aufräumen nach der Zeitenwende“ hieß ihr Text. Von Y (wai gesprochen) bis Z (Set). Ich kenne mich mit diesen Generationenbegriffen nicht aus. Ich persönlich gehöre wohl zu den Babyboomern, habe lange gebraucht zu begreifen, dass das die Vorpillenzeit war. Jetzt, kurz vor der Rente, merke ich, was es mal bedeuten wird.
Heilige Dreifaltigkeit. Es gibt einen ewig langen Wikipedia-Artikel zur Generation Y. Danach kommt die Generation Z. Y kommt von Why, sagen manche: Hinterfragen. Was wird Z sein? Zündeln? Zustechen?
Katharina singt eine Zeile aus „Imagine“ – weiß nicht mehr welche – imagine all the people livin life in peace vielleicht. Sohn träumt nicht mit. Stattdessen realitätsfernes Zocken. Er hat ein FSJ im Kindergarten gemacht, danach war er bei der Armee – jetzt schläft er bis zur Dehydrierung, abends geht er ins Fitnessstudio. Keine Gespräche, aber jetzt: Krieg fasziniert ihn. Mann sein dürfen, ohne weißes Arschloch zu sein. (Heißt Krieg nicht, dass aus dem ersten ohne Alternative das zweite wird?) – Infragestellen der Deutschen Friedenswut – was für eine Wortkombination, denke ich. Sohn hat nichts gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Aber eine Gelenkfunktionsstörung – entzündliches Leben – er erklärt ihr, wie die Waffen verteilt sind, er kennt sich aus.
Gewinnt nicht das Falsche, fragt die Autorin, wenn ich mich daran beteilige, das Richtige lächerlich zu machen? Den Sohn ficht das nicht an. Er findet tote Helden besser als lebende Feiglinge.
Das hat Swetlana Alexijewitsch in ihren „Zinkjungen“ geschrieben. „Warum fällt es Achtzehn- oder Neunzehnjährigen leichter zu töten als zum Beispiel Dreißigjährigen. Sie kennen weniger Mitleid.“ Das hat ein Major, ein russischer, zu Protokoll gegeben. Das muss natürlich noch vor der Generation Y gewesen sein.
Mit dem Spruch:
Eines weiß ich nun inzwischen, sei auf der Hut vor langen Tischen
schickte uns Leovinus in die Pause.
Der erste Lesende danach war Matthias Rische. Er fühlte sich bemüßigt uns mitzuteilen, dass der Text nicht autobiographisch wäre. Aber da das Unterbewusstsein das Wörtchen NICHT nicht hört … 😉
Meine Aufzeichnungen sind ein bisschen wirr, deshalb versuche ich es mal freihändig. Es ging um ein sogenanntes Bootcamp in Brandenburg. Die Philosophie dieser Camps ähnelt der der Marines: Willen brechen, um ihn später wiederaufzubauen. (Wikipedia).
Aus der Sicht eines Erziehers, der sich fragt, warum er dort arbeitet, wird das erzählt. Da ist ein Junge/junger Mann, Brennecke, Fredo. Was passiert jetzt, wo Motivation sich einen Weg suchen muss und nicht als Vorbedingung vorhanden ist. Der junge Mann ruft nach Karla (im Schlaf?) – Assoziation des erzählenden Erziehers: Alkohol- und Drogenrausch. Aber der Name Karla bringt auch in ihm was zum Klingen.
Er macht es sich zur Aufgabe, den jungen Mann zum Reden zu bringen. Er sieht da eine Fähigkeit bei sich. Karla ist des Jungen Mutter, die sich zu Tode gestürzt hat, „kurz bevor DU sie verlassen hast.“ Der Junge hat nämlich in dem Erzieher seinen Vater wiedererkannt (eines Fotos wegen).
Leos „Kommentar“: Grad in abgeschiedner Lage tritt die Wahrheit oft zutage.
Der nächste Lesende war Michael Wiedorn, hoffe, das ist richtig geschrieben. „Wir nehmen Abschied“ hieß sein Text.
Hier kann ich nur Bruchstücke liefern: Ging um die Pandemie irgendwie – Abstand zu kadaverartigen Menschen – unsichtbare dunkle Mächte, Viren – Kapitalwerte; Gespenst geht in der Welt um; Blumen verbanden sich mit einem Todesfrühling. Ach ja – Michael erwähnte, dass er den Text im Frühling 2020 geschrieben hat
Jeder eine Monade. Häh? Die Monadenlehre unterscheidet sich von der Urstofflehre der Vorsokratiker durch die Anwendung mathematischer Methoden auf die sich ergebenden Fragen, insbesondere hinsichtlich der seit René Descartes vollzogenen begrifflichen Trennung von Res extensa und Res cogitans und erscheint damit als holistischer Aspekt des Leib-Seele-Problems. (Internet) – Aha. Ich merke immer wieder, dass ich mit der Ökonomie das Falsche studiert habe, noch dazu mit der Politischen Ökonomie.
Jeder ein zu Einzelhaft verurteiltes Bruchstück. Aber Hoffnung: Eremiten können sich nicht anstecken. Trotzdem die Frage: Ist während der kurzen Öffnung der Wohnungstüre die … ??? auf mich übergesprungen?
Die Diskussion zum Text ergab:
- Thema Sterilität existiert auch jenseits der Pandemie
- Text erinnert an Thomas Bernhardt; der Mensch als selbstisolierende Maschine
- Bei dem Text habe es sich um Jammern auf hohem Niveau gehandelt
Leo: Immer schön den Abstand halten schützt vor den Naturgewalten.
Und damit kam der letzte lesende, nun ja, eher Vortragende: Wolfgang Eubel.
Er stellte uns zur Wahl, was er lesen solle. Humorvolles (Schwank aus der Jugend) oder einen Text aus der Abteilung „menschheitsgeschichtliche Tragik“. Und, oh Graus, das zweite hat gewonnen. Ich hätte ja lieber das Lustige gehört.
Er beginnt mit einem Zitat seines Lieblingsphilosophen Lichtenberg, der gesagt oder geschrieben haben soll: Was jeder Mann für ausgemacht hält, verdient am meisten, untersucht zu werden. Genau.
Dann brachte er verschiedene Dinge zusammen wie einen KGB-Chef mit einem kreuzschlagenden Russisch-Orthodoxen; den römischen Imperialismus mit dem „putinisch-Antimenschlichen“ – all das lief hinaus auf die
IdB
Die Inkarnation des Bösen.
Vor 10.000 Jahren wäre das Menschenopfer abgeschafft worden (was in der Diskussion in Zweifel gezogen wurde), psychotische Extremisten übernahmen vor 2000 Jahren das Römische Reich, seit 50 Jahren gäbe es zarte Anzeichen der Genesung – und nun: der Rückfall in den Rückfall. Meine Notizen geben noch her, dass www.nebenan.de Wolfgang gesperrt hat, weil er, wenn ich es richtig verstanden habe, enthüllt hat, dass so eine sympathische Website von irgendeinem Oligarchen (aber keinem russischen) gesteuert werde. Das Impressum gibt nur die Good Hood GmbH als Betreiber an, aber dahinter kann sich natürlich sonst wer verbergen. Hier gibt es ein paar Enthüllungen: Wer ist eigentlich „nebenan.de“? | Arno Welzel
Man wird sehen, ob sich nicht auch Facebook als hinterrücks klerikal gesteuert erweisen wird.
Ging dann noch um die Frage, dass Jesus Christus, der doch eigentlich das finale Menschenopfer sein sollte, eher der Auftakt zu Millionen Menschenopfern gewesen wäre. Und als Schlusssatz kam: fighting for peace is like fucking for virginity.
Viel Spaß dabei
Euer