Ehrliche Gefühle in edle Worte kleiden

Die 166. Lesebühne SoNochNie! fand am 28. Februar statt.

Aus traurigem aktuellem Anlass verzichtete der Moderator, Leovinus der Erste, auf die Ausbreitung eines 287. Jahrestages von irgendwas, sondern trug stattdessen die erste Strophe der ukrainischen Nationalhymne vor, auf deutsch selbstverständlich, weil nicht mal Leovinus des Ukrainischen mächtig ist … glaube ich.

Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben,
noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal.
Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne,
und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein.

Nun, weitere sechs Tage später, klingt das alles noch viel trauriger als am Montag.

Ich will es nur kurz hier erwähnen, dass die Ukraine im letzten Jahrhundert eines der gebeuteltsten Völker auf Gottes weitem Erdenrund gewesen ist, vom ersten Weltkrieg an, dann folgte der Bürgerkrieg, dann die große von Stalin angezettelte Hungersnot, dann der Große Terror, und als wäre das nicht genug, fielen die Deutschen ein, dann der Krieg der Nachkriegszeit, und immer waren es Hunderttausende oder gar Millionen von Toten und an Körper und Seele Verwundeten.

Zwei Buchempfehlungen meinerseits zu diesem Thema:

Timothy Snyder „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“

und

Anne Applebaum „Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine“

Beides sehr lesenswerte, wenn auch verstörende Bücher.

So. Einmal schütteln und los geht’s.

Der Themenbeauftragte des Monats war Marcello Stein. Das Thema lautete: „Warum Schreiben“

Um ehrliche Gefühle in edle Worte zu kleiden, wie das alle großen Dichter von Goethe bis Gundermann getan haben, ist Marcellos kurze und bündige Antwort.

Er las Gedichte, verbunden von kurzen Beschreibungen, warum und zu welcher Zeit sie entstanden sind. Aufgeschrieben habe ich mir zwei Zitate: Mein Rucksack voller Sehnsucht wird langsam klein. Und: Freu dich nicht zu früh, sehr geehrter Herr, ich hab noch einen Koffer in der DDR.

Das merkt man, sagte jemand aus dem Publikum. Naja, habe ich gedacht, jede(r) hat noch einen Koffer da, wo er/sie herkommt. So ist das mit uns Menschen. Und manchem bleibt die Heimat für immer, und manche(r) muss sich eine neue suchen, was nicht jedem/jeder leichtfällt.

Überleitung Leovinus:

Wer schreibt, der bleibt, das sagt man so, ich frage mich nur manchmal, wo?

Nach diesem launigen Bonmot zog er Gudrun Sonnenberg aus dem Hut, also einen Zettel, auf dem ihr Name stand.

Ihr Text hieß „Die Lieder“. Er handelte von zwei Straßenmusikanten, Lisa und Theo, die in kleinen Orten spielten an hoffentlich grauen Tagen, und die einen Geigenkoffer mit rotem Fellimitat vor sich legten zur Aufnahme der finanziellen Zuwendungen des geneigten Publikums. Der Koffer musste regelmäßig bis auf ein paar Münzen geleert werden, denn wenn zu viel drin lag, gaben die Leute nichts mehr.

Sie spielten alte, fast vergessene Lieder wie z.B. Ännchen von Tharau, was im oft verschämt in sicherer Entfernung lauschenden Publikum manchmal eigenartige Reaktionen hervorrief, Erinnerungen an den Führer und dass er die Juden doch gar nicht habe umbringen wollen, oder an einen Bruder, der im Krieg geblieben war. Manchmal dachten Lisa und Theo, dass sie die falschen Fans hatten. Aber da muss man, sage ich, als Künstler drüberstehen, man denke nur an Thomas Anders von Modern Talking, der seine größte Fanbase in Russland hat. Und mal ehrlich: wer Thomas Anders‘ Konzerte besucht, kann kein schlechter Mensch sein.

Leos Überleitung:

Hör ich Musik auf meinen Wegen, dann scheint die Sonne auch bei Regen.

Die dritte Lesende war Petra Lohan, sie führte uns mit ihrem Text „Risse im Putz“ in ein Verwirrspiel aus Licht und Schatten auf einer Wand vor dem Fenster, eine Wand, auf die die Protagonistin seit zwanzig Jahren schaut, und die ihr den Ausblick versperrt, offenbar aber die Phantasie anregt. Plötzlich ist da ein Schatten, das Bild eines Balkons mit Dame an einem Geländer, Sektglas in der Hand, und dann ein Mann mit Tüten an einer Strickleiter. Muss was Kriminelles sein, weil zu diesem Schattenspiel gesellen sich plötzlich Hubschrauber, die das Licht ihrer Scheinwerfer gnadenlos in den Hof schlagen. Schüsse. Am nächsten Tag Im Park traf sie ein älteres Paar, Drahtgestell mit Postkarten, Schattenspiele. Nie auf Schatten schießen, denkt sie und: der Mensch ist dem Mensch ein Schatten.

In der Diskussion zum Text kam noch die Erläuterung, dass die Polizei durch ein Schattenspiel ausgetrickst worden wäre. Außerdem muss hier noch eine Auflösung nachgereicht werden. Die Mehrzahl von Ahorn lt. Duden ist nicht A-Hörner, sondern Ahorne.

Leovinus leitete dann über mit:

Selbst wenn die Wand den Ausblick stört, man Vieles noch vom Nachbarn hört.

Er kündigte unsere zweite Anthologie „Unten ist noch Glut“ an, die anlässlich des 13-jährigen Bestehens unserer Lesebühne dank des Engagements von Michael im März erscheint. Wir freuen uns sehr darauf.

Und zog den Namen Katharina Körting aus dem Lostopf. „Aufräumen nach der Zeitenwende“ hieß ihr Text. Von Y (wai gesprochen) bis Z (Set). Ich kenne mich mit diesen Generationenbegriffen nicht aus. Ich persönlich gehöre wohl zu den Babyboomern, habe lange gebraucht zu begreifen, dass das die Vorpillenzeit war. Jetzt, kurz vor der Rente, merke ich, was es mal bedeuten wird.

Heilige Dreifaltigkeit. Es gibt einen ewig langen Wikipedia-Artikel zur Generation Y. Danach kommt die Generation Z. Y kommt von Why, sagen manche: Hinterfragen. Was wird Z sein? Zündeln? Zustechen?

Katharina singt eine Zeile aus „Imagine“ – weiß nicht mehr welche – imagine all the people livin life in peace vielleicht. Sohn träumt nicht mit. Stattdessen realitätsfernes Zocken. Er hat ein FSJ im Kindergarten gemacht, danach war er bei der Armee – jetzt schläft er bis zur Dehydrierung, abends geht er ins Fitnessstudio. Keine Gespräche, aber jetzt: Krieg fasziniert ihn. Mann sein dürfen, ohne weißes Arschloch zu sein. (Heißt Krieg nicht, dass aus dem ersten ohne Alternative das zweite wird?) – Infragestellen der Deutschen Friedenswut – was für eine Wortkombination, denke ich. Sohn hat nichts gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Aber eine Gelenkfunktionsstörung – entzündliches Leben – er erklärt ihr, wie die Waffen verteilt sind, er kennt sich aus.

Gewinnt nicht das Falsche, fragt die Autorin, wenn ich mich daran beteilige, das Richtige lächerlich zu machen? Den Sohn ficht das nicht an. Er findet tote Helden besser als lebende Feiglinge.

Das hat Swetlana Alexijewitsch in ihren „Zinkjungen“ geschrieben. „Warum fällt es Achtzehn- oder Neunzehnjährigen leichter zu töten als zum Beispiel Dreißigjährigen. Sie kennen weniger Mitleid.“ Das hat ein Major, ein russischer, zu Protokoll gegeben. Das muss natürlich noch vor der Generation Y gewesen sein.

Mit dem Spruch:

 Eines weiß ich nun inzwischen, sei auf der Hut vor langen Tischen

schickte uns Leovinus in die Pause.

Der erste Lesende danach war Matthias Rische. Er fühlte sich bemüßigt uns mitzuteilen, dass der Text nicht autobiographisch wäre. Aber da das Unterbewusstsein das Wörtchen NICHT nicht hört … 😉

Meine Aufzeichnungen sind ein bisschen wirr, deshalb versuche ich es mal freihändig. Es ging um ein sogenanntes Bootcamp in Brandenburg. Die Philosophie dieser Camps ähnelt der der Marines: Willen brechen, um ihn später wiederaufzubauen. (Wikipedia).

Aus der Sicht eines Erziehers, der sich fragt, warum er dort arbeitet, wird das erzählt. Da ist ein Junge/junger Mann, Brennecke, Fredo. Was passiert jetzt, wo Motivation sich einen Weg suchen muss und nicht als Vorbedingung vorhanden ist. Der junge Mann ruft nach Karla (im Schlaf?) – Assoziation des erzählenden Erziehers: Alkohol- und Drogenrausch. Aber der Name Karla bringt auch in ihm was zum Klingen.

Er macht es sich zur Aufgabe, den jungen Mann zum Reden zu bringen. Er sieht da eine Fähigkeit bei sich. Karla ist des Jungen Mutter, die sich zu Tode gestürzt hat, „kurz bevor DU sie verlassen hast.“ Der Junge hat nämlich in dem Erzieher seinen Vater wiedererkannt (eines Fotos wegen).

Leos „Kommentar“: Grad in abgeschiedner Lage tritt die Wahrheit oft zutage.

Der nächste Lesende war Michael Wiedorn, hoffe, das ist richtig geschrieben. „Wir nehmen Abschied“ hieß sein Text.

Hier kann ich nur Bruchstücke liefern: Ging um die Pandemie irgendwie – Abstand zu kadaverartigen Menschen – unsichtbare dunkle Mächte, Viren – Kapitalwerte; Gespenst geht in der Welt um; Blumen verbanden sich mit einem Todesfrühling. Ach ja – Michael erwähnte, dass er den Text im Frühling 2020 geschrieben hat

Jeder eine Monade. Häh? Die Monadenlehre unterscheidet sich von der Urstofflehre der Vorsokratiker durch die Anwendung mathematischer Methoden auf die sich ergebenden Fragen, insbesondere hinsichtlich der seit René Descartes vollzogenen begrifflichen Trennung von Res extensa und Res cogitans und erscheint damit als holistischer Aspekt des Leib-Seele-Problems. (Internet) – Aha. Ich merke immer wieder, dass ich mit der Ökonomie das Falsche studiert habe, noch dazu mit der Politischen Ökonomie.

Jeder ein zu Einzelhaft verurteiltes Bruchstück. Aber Hoffnung: Eremiten können sich nicht anstecken. Trotzdem die Frage: Ist während der kurzen Öffnung der Wohnungstüre die … ??? auf mich übergesprungen?

Die Diskussion zum Text ergab:

  1. Thema Sterilität existiert auch jenseits der Pandemie
  2. Text erinnert an Thomas Bernhardt; der Mensch als selbstisolierende Maschine
  3. Bei dem Text habe es sich um Jammern auf hohem Niveau gehandelt

Leo: Immer schön den Abstand halten schützt vor den Naturgewalten.

Und damit kam der letzte lesende, nun ja, eher Vortragende: Wolfgang Eubel.

Er stellte uns zur Wahl, was er lesen solle. Humorvolles (Schwank aus der Jugend) oder einen Text aus der Abteilung „menschheitsgeschichtliche Tragik“. Und, oh Graus, das zweite hat gewonnen. Ich hätte ja lieber das Lustige gehört.

Er beginnt mit einem Zitat seines Lieblingsphilosophen Lichtenberg, der gesagt oder geschrieben haben soll: Was jeder Mann für ausgemacht hält, verdient am meisten, untersucht zu werden. Genau.

Dann brachte er verschiedene Dinge zusammen wie einen KGB-Chef mit einem kreuzschlagenden Russisch-Orthodoxen; den römischen Imperialismus mit dem „putinisch-Antimenschlichen“ – all das lief hinaus auf die

IdB

Die Inkarnation des Bösen.

Vor 10.000 Jahren wäre das Menschenopfer abgeschafft worden (was in der Diskussion in Zweifel gezogen wurde), psychotische Extremisten übernahmen vor 2000 Jahren das Römische Reich, seit 50 Jahren gäbe es zarte  Anzeichen der Genesung – und nun: der Rückfall in den Rückfall. Meine Notizen geben noch her, dass www.nebenan.de Wolfgang gesperrt hat, weil er, wenn ich es richtig verstanden habe, enthüllt hat, dass so eine sympathische Website von irgendeinem Oligarchen (aber keinem russischen) gesteuert werde. Das Impressum gibt nur die Good Hood GmbH als Betreiber an, aber dahinter kann sich natürlich sonst wer verbergen. Hier gibt es ein paar Enthüllungen: Wer ist eigentlich „nebenan.de“? | Arno Welzel

Man wird sehen, ob sich nicht auch Facebook als hinterrücks klerikal gesteuert erweisen wird.

Ging dann noch um die Frage, dass Jesus Christus, der doch eigentlich das finale Menschenopfer sein sollte, eher der Auftakt zu Millionen Menschenopfern gewesen wäre. Und als Schlusssatz kam: fighting for peace is like fucking for virginity.

Viel Spaß dabei

Euer

Wir sind wieder (genau) da!

Seit langer Zeit die erste Offene Lesebühne So noch nie wieder offline und live im Zimmer 16! Ein tropisch warmer Sommerabend, nette Gäste, ein kühles Getränk und neue Texte – was will man mehr? Höchstens baldmöglichst die Befreiung von Testpflicht und Zuschauerbegrenzung, die vom Team des Zimmer 16 konsequent eingehalten wurden.

Die Freude über die Heimkehr aus dem unfreiwilligen Asyl bei „Zoom“ ins Zimmer 16 stand nicht nur Moderatorin Angela Bernhardt ins Gesicht geschrieben (siehe Foto). In Anlehnung an Leovinus, den sie heute vertrat, richtete sie die Aufmerksamkeit nicht auf Jubiläen, sondern auf Nicht-Jubiläen des Tages, also Dinge, die an einem 28. Juni noch nie passiert sind. Welche sie präsentiert hat, sei hier nicht verraten, aber vielleicht finden Sie ja selbst welche heraus und schreiben für die nächste Lesebühne eine epochale Geschichte darüber.

Der erste Lesende natürlich: der Themenbeauftragte. Der hieß Matthias Rische und sein Thema lautete: „Blitzkurs“. Der Erzähler trieb sich dafür auf einem Friedhof herum, dessen Namensgeberin ein heilig gesprochenes minderjähriges Vergewaltigungsopfer ist. Das klingt jetzt alles zusammen ziemlich gruselig, aber obwohl der Erzähler dort nur spaßeshalber herumlief, um eine Frau kennenzulernen, und die eine, die er ansprach, gerade Hochprozentiges zu sich nahm, nahm die Geschichte keine üble Wendung. Stattdessen war sie voller origineller Beobachtungen und Gedanken, und dass die Frau sich sehr bald vom (Gottes-)Acker machte, hinterließ keinen Gram: Der Blitzkurs im Flirten garantiert keinen schnellen Erfolg und das Leben, es geht weiter.

„Er ist noch oben“ hieß Gudrun Sonnenbergs Geschichte. Sie passte zu den Sommertemperaturen, denn eine Frau joggt trotz Hitze durch die Stadt, möglichst unter kühlenden Parkbäumen. Doch auf dem Heimweg, schon an der Grenze der Erschöpfung, muss sie erkennen, dass es in ihrer Straße brennt. In ihrem Haus? Ihrer Wohnung? Der Schrecken, der sie durchfährt, treibt sie wieder an, ihr erwachsener Sohn schläft noch, „oben“ in der Wohnung, und sie hat die Tür abgeschlossen, als sie zum Laufen ging. Doch ein anderes Haus brennt, ihre Sorge war unbegründet. Der Schrecken bei den Zuhörern aber legt sich erst, als der junge Mann auf ihr Klopfen an der Zimmertür reagiert.

Die erste Lesebühne im Zimmer 16 IN DIESEM JAHR (!) hatte nicht nur ein, sondern zwei Debüts zu bieten. Das erste: Petra Schick und ihr Langgedicht „Als ob der Tod nie kommt“. Wie meistens bei Lyrik, erschlossen sich ihre enorm assoziationsreichen und gedankentiefen Zeilen nicht beim einfachen, ersten Zuhören, darüber waren sich alle einig. Deshalb machten wir den Vorschlag, es auf unserer Website zu veröffentlichen, und Petra sagte zu. Hier können Sie sich in ihren kunstvollen Mental-Strom werfen und schauen, denken, assoziieren. Danke, Petra!

„30 Jahre Abitur“ war der Titel von Katharina Körtings Text, eine „Hommage an das bestandene Abi“ ihres Sohnes. Und eine Gedanken- und Erinnerungsverbindung an eigene Abi-Zeiten, wie auch die Anfänge des eigenen Schreibens. Denn aus der „Diktatur des Lesens“ hat sich die junge Abiturientin dereinst nur schreibend befreien können, Buchstabe für Buchstabe „zurück zu mir“. Und trotzdem stellte sich Scham ein über das Geschriebene – eine Erfahrung, die sicher viele kennen, die mit dem Schreiben beginnen. Doch ihr Schreiben hat auch „das Lesen gerettet“. Der Befreiungsakt des Schreibens, auch den kennen sicher viele, die sich den Worten anheimgeben. Entsprechend wurde im Publikum auch viel darüber diskutiert und von eigenen Erfahrungen berichtet.

Das nächste Lese-Los fiel auf mich, Michael Wäser. Da ich die Arbeit an einer Erzählung, aus der ich eigentlich vorlesen wollte, gerade unterbrochen habe, legte ich zur Entschuldigung den Grund für die Unterbrechung auf den Lese-Tisch: Mein neuer Roman ist nämlich gerade erschienen. „Das Wunder von Runxendorf“ erzählt eine grausame Geschichte in einem saarländischen Dorf während der Fußball-WM 1974. Zwischen all der Grausamkeit blühen nur wenige zarte Blumen und sogar das titelgebende Wunder ist eines von der dunklen Sorte. Hier verrate ich nicht, worin es besteht, am Abend las ich aber genau dieses zentrale Kapitel vor.

Gerhard Gruner war der zweite Debütant des Abends. Seine Geschichte „Der Schlüsselbund“ erzählte, wie ein verkaterter Student eine Eroberung macht, oder besser, gemacht hat, denn er erinnert sich am nächsten Morgen nicht daran. Nur der fremde Schlüsselbund in seiner Tasche macht ihn neugierig, und er fahndet nach der dazu passenden Tür. Die wird ihm dann auch weit und bereitwillig geöffnet. Aus dem Publikum kamen Lob für die Idee und Anregungen, die Sprache des Textes lebendiger zu gestalten, denn ein humoristischer Text lebt stark davon.

Siebter Lesender: Wolfgang Weber. „Die Konferenz“ war ein großer Wort-Spaß auf „-enz“. Eine Lawine von auf „-enz“ endenen Wörtern ergoss sich von Wolfgangs Tisch, locker geordnet um die Erzählung einer legendären Koblenzer „Konferenz zur Quintessenz„. Schwindelig wurde einem bei diesem Wirbel aus Enzen, lustig war’s außerdem, gewitzt und eigenwillig. Und damit ging diese schöne Juni-Lesebühne mit angemessener Eloquenz zuende.

Ach so: Niemand wollte August-Themenbeauftragte/r sein, also erklärte ich mich bereit. Mein gelostes Zuschauerthema, an dem ich vermutlich zu knabbern haben werde: „Schmerzruine“ (Ich hatte das erste Los „Prinzessin Lillifee“ verschmäht und musste nun das zweite annehmen). Wir danken dem Team des Zimmer 16 für sein Durchhaltevermögen im Lockdown und seine Gastfreundschaft und freuen uns auf den 26. Juli, wenn Frank Georg Schlosser als Themenbeauftragter seinen Text zum Zuschauerthema „Teufelskreis“ vorstellen wird.

Wissen glauben

Der Hintergrund zum Hintergrund kommt noch, sagte Leovinus zur Eröffnung der 155. Offenen Lesebühne SoNochNie!

Um einen 73. Jahrestag ging es in seiner Anmoderation.

Virtuell hatte er sich nämlich vor den schwarzen Buchstaben Å auf weißem Grund gesetzt, womit er uns auf die dänische Rechtschreibreform von 1948 hinweisen wollte. Außerdem sei am 22. März 1948 Andrew Lloyd Webber geboren, sowie der Fußballer Bernard Dietz, der die deutsche Nationalmannschaft 1980 zur Europameisterschaft führte. Wer hätte das gedacht?

Und dann ging es sofort los mit dem Themenbeauftragten Michael Wäser und dem Thema „Wer’s glaubt“. Ich sage mal: ein Feuerwerk an klugen Gedanken, mit denen er mir aus der Seele sprach.

Micha nannte den Text ein Essay, ursprünglich wollte er ihn „wilde Spekulation“ nennen.

Er begann mit Orson Welles Hörspiel „Krieg der Welten“, das zu Massenpaniken und bewaffneten Bürgerwehren in den Straßen führte, über Stevie Wonders Song „Superstition“, über Q … wie bitte? Was hat denn James Bond bei dem Thema verloren, dachte ich, aber er meinte natürlich QAnon und dann kam er zum nach meinem Dafürhalten schönsten Bonmot des Abends:

Wissen glauben.

Ich will hier nicht noch ausführlicher werden, aber das Ganze gipfelte in der berechtigten Frage:

Gibt es Bielefeld?

Keine Ahnung. Ich bin zwar schonmal dagewesen, aber das ist lange her, und kann man Bahnhofsschildern vertrauen?

Ich war schwer begeistert und die Diskussion im Anschluss zeigte, dass es nicht nur mir so ging.

Anschließend zog Leo mich aus der Lostrommel – und es passte ganz gut, zur Abwechslung was Sinnfreies. Der wilde Knarf sah sich mit einem Meerschweinchenproblem unter dem Küchenschrank konfrontiert. Er erschuf dafür einen Avatar, nannte ihn Schwermeinchen, der das Meerschweinchenproblem lösen sollte. Schwermeinchen nun wollte, wie jeder gut geführte Arbeitskreis (wenn man nicht mehr weiter weiß…) das Problem nicht lösen, sondern verstetigen. Schwermeinchen schmiss Meerschweinchen darum nicht raus, wie sich das der wilde Knarf vorgestellt hatte, sondern besorgte ihm was zu fressen und Heu für ein Lager. Wer Bock auf was leidlich Amüsantes hat, findet den Text hier.

Im Anschluss gab es dann von Katharina Körting nichts Seichtes, sondern einen wütenden Kommentar zum Arschlochtum von männlichen Chefs, speziell im Kulturbetrieb. Männliche Diven, nannte sie die, was mich insofern amüsierte, als sie für die Charakterisierung männlicher Chefs einen eigentlich weiblichen Begriff bemühte. Aber wenn es passt. Diventum ist hinzunehmen wie schlechtes Wetter. Sätze hören zu müssen wie: zu schlecht angepasst für eine Frau meines Alters. Selten weisen Frauen Männer auf solche Unverschämtheiten hin. Und mit der oft bemühten Frauensolidarität wäre es auch nicht weit her. Was Macht macht: großen Schwanz schwenken und mit den Augen abspritzen. Übel würde ihr vor Wut, wenn solche Männer Arschlochigkeit brauchen, um Kunst hervorzubringen. Und wenn es ihm dann um die Ohren fliegt, garniert er seine Entschuldigung mit dem Satz, es täte ihm leid, wenn er Frauen verletzt haben sollte. Dass er Frauen verletzt hat, müsse es wenigstens heißen.

Auch dieser Text wurde vielfältig besprochen und fand großen Zuspruch, auch wenn sich alle anwesenden Männer natürlich nicht angesprochen fühlten. Ich sage mal: das hat seine immanente Logik, denn sonst würden wir woanders lesen.

Es gab dann zehn Minuten Pause und anschließend die Wahl der Themenbeauftragten, und das hat mit dem weiblichen Genitiv seine Richtigkeit, denn Gudrun Sonnenberg wird die Themenbeauftragte des Monats Mai sein. Sie nahm Thema 5: „Spurwechsel“ – viel Spaß dabei, Gudrun.

Zugeschaltet aus Paderborn (liegt das irgendwo bei Bielefeld? Tatsächlich, mal gerade 50 km südlich – gibt es Paderborn?) war uns ohne Bild (gibt es sie wirklich?) die Svenja Volpers. Sie las ein Gedicht mit der Überschrift Chiraptophobie, das ist die Berührungsangst. Komm nicht näher, fass mich nie wieder an. Habe Anstand, halte Abstand. Meine Haut ist wie gefrorener Tau, du wirst dir wehtun.

Das lyrische Ich wehrt sich. Ausdrücklich bestätigte die Autorin, dass auch die Angst vor Krankheiten zur Chiraptophobie führen könne.

Dann las der wieder aufgetauchte Matthias Rische einen Text mit dem Titel „Fehlender Schein“.

Ein Chronist eines Ortes – meistens ging es um die Dunkelheit und die Frage, wohin das Licht verschwunden ist. Matthias malte ein düsteres Bild mit Regen, der aufgehört hat, Dunkelheit, die geblieben ist und Nebel, der dazukam. Ganzjährig Gummistiefel prägten das modische Erscheinungsbild, ein nie nachgefüllter Kaugummiautomat, den er als Kind mal aufgebrochen hatte. Dann wurde es doch noch fassbarer: das Haus der Raumers, ein altes, runzliges Gesicht hinter der Scheibe. Warmherzigkeit ohne Lächeln. Erinnerte ihn an Hanna, die ein Kerzenlicht in seinem Leben angezündet hatte, das sie allerdings mit einer einzigen Bewegung nach drei Jahren auspustete. Mir wird schon schwermütig beim Schreiben. Ich musste immerzu an Mike Hanlon denken, der einst die vertriebenen Seelen zurück zum letzten Gefecht nach Derry holte. Aber solche Anwandlungen hatte der Held von Matthias‘ Geschichte nicht.

Zum Schluss wurde als Tonkonserve Stefan Franken eingespielt mit einem Gedicht mit dem Titel B.1.1.7.

Wie immer reimte es sich prima bei Stefan, er hat da echt ein Händchen für. Allerdings fehlte mir diesmal die Pointe. Micha meinte, das Gedicht transportiere so ein Schulterzucken. Wie ein Jahresrückblicksgedicht. Man kann es hier nachlesen.

Und das war sie, die sehr anregende 155. Lesebühne SoNochNie. Bevor alle das Zoom-Meeting verließen, versicherten wir uns, wie schön es gewesen war. Und das muss auch ich sagen. Ich war beschwingt und froh, bis ich Mitternacht ins Bett musste.

Bisher versicherten wir uns auch immer, dass wir uns bald live im Zimmer 16 wiedersehen würden. Diesmal klang das sehr viel vorsichtiger. Aber gerade darum: Spenden nicht vergessen, wer es sich leisten kann. Jeder Euro zählt, sagt man immer, aber natürlich sind andere Zahlen am Anfang und noch eine Null am Ende deutlich hilfreicher. Spendenkonto findet ihr auf der Homepage des Zimmers 16 und auch unter www.sonochnie.wordpress.com.

Euer

Jahresendschwermut

Zoom-Konferenz am 28.12.2020 – wieder einmal. Zwei alte Bekannte erkannten sich (Annette und Uli Domchor vor 32 Jahren).

Diesmal war der Michael Wäser der Moderator des Abends und er bestimmte, dass außer der Themenbeauftragten alle Lesenden in der alphabetischen Reihenfolge des dritten Buchstabens ihrer Vornamen drankämen, was ohne Widerspruch hingenommen wurde.

Es begann die Themenbeauftragte Annette Wizisla mit einem sehr kurzen gedichthaften Text zum Thema Pianoforte. Sie fand eine Menge, nämlich zehn, dazu passende Reime wie verdorrte, Orte, Pforte, Torte, horte, und ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber auf Nachfrage kam in etwa heraus, dass sie weiß, was sie zu tun hat, wenn ER nicht kommt, ohne Schmollmund (bringt ja nichts): nämlich das Pianoforte spielen. Und das tat sie dann auch ganz selbstverständlich und zauberhaft. Es ist schade, dass über Zoom doch manchmal etwas vom Klangerlebnis sowohl rhythmisch als auch tonal verloren geht.

Der zweite Lesende war dann ich (FrAnk) mit einer Pankower Weihnachtselegie, die sich am Vaterunser entlang hangelte. Ein Mord in Sao Paolo führte zu Obdachlosigkeit in Pankow und am Ende ging es darum, dass man keine Angst vor dem Tod zu haben braucht, da er  wie ein eingeschlafener Arm ist, bloß eben ganzkörperlich.

Es schloss sich eine kleine Diskussion um die Verwendung des Imperfekts und des Plusquamperfekts an, auf die ich mangels theoretischer Sattelfestigkeit nicht weiter eingehen will.

Uli Eckard aus Berlin wird der Themenbeauftragte des Monats Februar 2021 sein, er wurde von Annette ein bisschen dahin gedrängt (vielleicht der alten Zeiten im Domchor wegen). Und er bekam das Thema „Elegie“ zugelost, was als Thema aus diesem Abend einfach entspringen MUSSTE, so traurig, wie die Texte alle waren.

Denn auch der MiCha als dritter Lesender versank in einer elegischen Reflektion – allerdings steckte eine Menge Wut in seiner Elegie, in der es u.a. darum ging, dass man als Mann nicht erwachsen werden darf, denn Männer sind schlecht. Ein Date … wenn die wüsste, dass ich zwölf geblieben war. Es ging um schuldige Eltern, die sich dem Tod entgegen saufen. Es ging um rücksichtsvolle und weniger rücksichtsvolle Selbstmorde … (Sack über den Kopf, den nur die Polizei öffnen darf ist rücksichtsvoll). Der Text war klar und nur wenig rücksichtsvoll.

Annette spielte uns zurück ins Leben.

Über den Text wurde viel gesprochen, über das harte Urteil Eltern gegenüber, die mit dem Leben nichts anzufangen wussten.

GuDrun las als vierte über das Lesen in der Zeit. Das Erleben entschleunigten Lesens oder Hörens von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, durchbrochen vom Liken, was Antirassisten dagegen hielten und vom Disliken einer Giftwolke über Santiago de Chile. Wie soll man da Worte nachklingen lassen. Zwischendurch sollen Muslime sich vom Islamismus distanzieren, während man selbst sich von schönen Sätzen niederringen lässt.

Auch in der Zeitlosigkeit vergeht die Zeit.

Von der Gleichzeitigkeit von Facebook, Musik und Proust – vom Versinken im Gegensatz zum Surfen – davon, dass tiefe Literatur  abhandenkommt und vom Glück, alte Literatur zu lesen war in der Diskussion zum Text die Rede.

Zum Schluss las KaTharina „Wie ich ein schlechter Buddhist wurde“. Sie stellte ihren Text unter ein Motto: „Das Leben hat kein Übel mehr für den, der recht begriffen hat, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist.“

Uff. Was für eine Lesebühne! In diesem Falle verschwand die Zeit im Traum. Es schien um eine Operation zu gehen, die wie eine Nahtoderfahrung daherkam … plötzliches wieder sehen können ohne Brille; und die Feststellung, dass es der Körper sei, der einem im Tode fehlen würde, wenn da etwas fehlt. Aber ach: auch er fehlt nur im Leben wie alles was fehlt, nur im Leben fehlt – im Tode fehlt nichts. Aber Gott sei Dank kam das Leben zurück und mit ihm auch die Kurzsichtigkeit. Und mit ihr der Satz: wenn das alles nicht schlimm ist, ist vielleicht auch das Leben nicht schlimm.

Tja, bin allein vom Protokoll schreiben total schwermütig geworden. So viel Melancholie war selten an einem Abend.

Lag es an Weihnachten, das dieses Jahr mit so viel weniger Treffen und Familie auskommen musste. Hoffen wir, dass der Januar wieder frohsinniger wird, wenn dann am 25. Januar um 19.30 Uhr die 153. Lesebühne SoNochNie! wahrscheinlich wieder über Zoom mit dem Thema „Gute Mutter“ den virtuellen Vorhang öffnen wird.

Bis dahin viele frohe Momente wünscht Euch Euer

Eine gute Mutter glaubt … ihrem Kind

Ein Vorteil der Lesebühne ist, dass Leo uns immer wieder die

erstaunlichsten Jubiläen

verkündet, diesmal war es der 23. November 1772, als Johann Christoph Winters in Bonn geboren wurde, irjendwat mit Puppentheater in Kölle, wen es interessiert, der googele bitte selbst und ständig.

Der

Themenbeauftragte Klaus Kleinmann

blieb sich treu. Bereits im März, als er Themenbeauftragter war, blieb er fern, so auch diesmal. Allerdings holte er den Auftritt vom März im September nach. So hoffen wir also, seinen Text zum Thema „Schlau“ im Mai 2021 hören zu dürfen.

Stattdessen begann

Matthias Rische

mit einem Text, der „Tabu“ hieß. Ein junger Mann, sehr jung, wird erst mit der Einschulung der Mutterbrust entwöhnt, was er trotzdem oder gerade deshalb als ein Verstoßen empfand. Der Schmerz über die Zurückweisung saß so tief, dass er beschloss herauszufinden, wie sich Frauen beherrschen ließen, damit ihm so etwas nicht noch einmal passierte. Er wollte den Spieß umdrehen, soweit man eine Mutterbrust mit einem Spieß vergleichen kann. 😉 Ihn beschäftigte die Mia mit den blaugelben Haaren. Eines Tages fuhr er sie mit seinem Bollerwagen in den Wald. Dort stieß er sie ins Gras, fing sie am Rücken auf und fasste ihr gleichzeitig an die Brust. Die Enttäuschung über das, was er da vorne zu fassen kriegte, war so groß, dass Mias Blick in den Himmel ihr letzter blieb.

Der Text weckte einige Diskussionen, u.a. warum er enttäuscht von Mias Brust war, wo er sie doch lange kannte. Aber er war dreizehn, sie zehn. Und er war sich wohl nicht bewusst, dass er sie der Brust wegen mit seinem Bollerwagen in den Wald fuhr.

Danach durfte ich lesen,

Frank Georg Schlosser,

eine ironisch-sarkastische Betrachtung zur aktuellen Lage unter dem Titel Also ich finde die Maßnahmen toll. Der Text beklagt gewisse Inkonsequenzen und rief durchaus lebhafte Diskussionen hervor, u.a. dazu, dass es vielleicht gar keine schlechte Idee wäre, die Fürstentümer von vor dem Dreißigjährigen Krieg wiederzubeleben, Zollschranken wieder zu errichten, um die Durchseuchung zu verlangsamen. Besonders Johann, aus Dänemark zugeschaltet, fand, dass der Text gerade mit dem Satz, dass das Virus etwas schaffe, was Generationen von Klassenkämpfern nicht vermocht hätten, genau ausdrücke, was er meine. Wir haben die Chance, anders zu werden. Micha sah die Unterschiedlichkeit der Kulturen im Umgang mit dem Virus. Norbert meinte, dass spätestens, wenn wir uns impfen lassen, alles wird wie vorher. Aber – und das sagt mein Text auch: das nächste Virus kommt bestimmt.

Anschließend las

Katharina Körting,

zum Thema: jeder Kontakt, der nicht stattfindet, ist ein guter Kontakt. Weihnachten, ein Fest, das durch Berührung heilt, denn hat nicht der Heiland eben durch Berührung geheilt, möglichst ohne Berührung. Lockdown bis Weihnachten, um Weihnachten zu retten. Am schönsten fand ich das Bonmot: der zukünftige Nichtkanzler Friedrich Merz – habe vergessen, was er vorgeschlagen hat. Als nächste Notiz steht da: man müsste Weihnachten verbieten, aber das kann keiner gesagt haben, der Nichtkanzler werden will.

Wie sieht ein Kontakt aus, der nicht stattfindet? Fragen über Fragen. Aber mehr als Nichts kann ja nicht schiefgehen. Den Satz finde ich bedenklich, weil ja immerzu Sachen schiefgehen, und das wäre dann ja mehr als Nichts.

Es wurde in der Diskussion darauf hingewiesen, dass der Satz „Jeder Kontakt, der nicht stattfindet, ist ein guter Kontakt“, unlogisch ist. Kann die Kanzlerin also nicht gesagt haben. Und außerdem brach plötzlich (wegen der Erzählung über einen Jugendlichen, der sich irgendwo aufgehalten hat, wo mehr als zehn Menschen beisammen standen, seiner Mutter aber versicherte, alle hätten auf Abstand geachtet) eine Diskussion los, wie Mütter da zu reagieren hätten:

  1. Eine gute Mutter glaubt ihrem Kind.
  2. Eine gute Mutter gibt ihrem Kind das Gefühl ihm zu glauben.
  3. Eine gute Mutter nötigt ihr Kind nicht zu lügen.

In der letzten These kann man sich für zwei Kommasetzungen entscheiden, was im Grunde eine vierte These produziert.

Die Diskussion hatte für mich starke Auswirkungen, aber dazu später.

Als Letzter (last but not least) las  

Michael Wäser

aus seinem Projekt, in dem wiederum eine Mutter an ihre zwei Kinder über die Entwicklung der Menschheit schreibt. Der Brief ist in der Zukunft geschrieben, beschreibt aber meist Zeiten, die schon eine Weile zurückliegen. „Der Bauernsohn und der Teufel“ nannte er seinen Ausschnitt. Es ging um einen Herrn Mandel, seines Zeichens Mönch und Lehrer und Wetterbeobachter. Und ihm verdanken wir die erste detaillierte Beschreibung einer Windhose. Ein Baum raste auf ihn zu. Herr Mandel versuchte, nicht zu sterben. Ihm verdanken wir die genaueste Beschreibung des Wetterphänomens, die es bis dahin gab. 150 km/h, rechnete er anhand von Zeit und Entfernung aus, bewegte sich die Windhose über das Land, dreimal schneller als die Eisenbahn. Die Blitze verglich er mit Rauchsäulen, wie sie aus den neuen Fabriken steigen … und so hatte der Teufel doch noch seinen leibhaftigen Platz erhalten.

Vorbild für diesen Mandel war wohl Gregor Mendel (1822 – 1884).

In der Diskussion kam noch ein schickes Bonmot auf, weil Gudrun sich als alte Frau bezeichnete (was sie niemals ist) und ich sagte, da gäbe es also nicht nur alte weiße Männer, sondern auch ebensolche Frauen, was Norbert zu dem Einwand nötigte, dass es bei den Frauen weise heiße.

Der Gott des Satzbaus wird mich mit schlimmen Albträumen bestrafen.

Nachzureichen wäre noch, dass für den Januar ein Themenbeauftragter gewählt wurde, nämlich ich konnte alle electoral votes auf mich vereinigen, simply per Akklamation, wäre vielleicht auch was für Trump gewesen, und dass ich als Thema „gute Mutter“ bekommen habe. War nicht ganz nach den Regeln, aber Norbert hatte so oft gesagt, dass er ein Lieblingsthema habe, dass ich nicht anders konnte, als es aus ihm herauszukitzeln. Und ich bin glücklich mit diesem Thema. Werde sofort nochmal Hans-Joachim Maaz’s „Lilith-Komplex – die dunklen Seiten der Mütterlichkeit“ studieren. Es gibt von allem eine dunkle Seite, hauptsächlich natürlich die dunkle Seite der Macht, aber auch zu empfehlen von Stephen Wolinski: „Die dunkle Seite des inneren Kindes“, was mich sofort an Chucky, die Mörderpuppe, denken lässt. In diesem Sinne – sweet dreams.

Und bis zum 28. Dezember, dann wahrscheinlich wieder im virtuellen Raume. Wer immer bis hierher gelesen hat, nicht vergessen, dem Zimmer 16 zu spenden, Bankverbindung gibt’s auf unserer Website www.sonochnie.wordpress.com Auf Nachfrage stellt das Zimmer 16 wohl auch Spendenbescheinigungen aus. Und auch das befriedigt ja eine dunkle Seite in uns, nämlich das Bedürfnis Steuern zu sparen.

Euer

Das Tattoo ist die neue Kuckucksuhr

Leovinus eröffnete die 149. Lesebühne am 28.9.2020 im Zimmer 16 in Pankow wie immer mit einem Jahrestag, diesmal dem 88. Jahrestag des brachtvollen Zwickelerlasses von 1932, der die Kleiderordnung in öffentlichen Badeanstalten regelte, so benannt nach dem Reichskommissar Franz Bracht, damaliger Innenminister der Weimarer Republik. Bei Männlein und Weiblein musste ein Zwickel sein, und ich lernte, dass ich immer eine falsche Vorstellung von einem solchen hatte. Von dort leitete Leovinus über zum Thema des Abends, nämlich der Quelle, weil man, mit oder ohne Zwickel, darin auch baden kann.

Themenbeauftragte war Katharina Körting. Sie begann mit der Feststellung, dass das Wort Quelle ein bisschen übermetaphiert ist, darum dachte sie sich, sie werde mal ein bisschen scheitern. Der Text balancierte zwischen Lyrik und Prosa. Ich rinne, plätschere, sprudele, ergieße mich, … wohne an einem See als hätte ich es zu etwas gebracht – und zahle für mein geliehenes Glück nun den Pfand. … Ach … könnte ich ruhen, nicht immer nur Quelle sein. Ich fand es sehr erbaulich. Scheitern geht anders, kommt aber natürlich ganz auf den Maßstab an.

Als zweiten Lesenden zog Leovinus mich aus seiner Schüssel, Frank Georg Schlosser und ich las über das Belauschen fremder Gespräche an Restauranttischen. Das Problem waren nicht die Dornen, das Problem war Dornröschen. Oder: Mussten sie da (im Swingerclub) jetzt mit Masken Einweghandschuhen und Kondomen vögeln? Der Text wurde lange diskutiert, u.a. kam daher der Vergleich der Tattoos mit den Kuckucksuhren, weil ich zwei voll tätowierte Jugendliche als cool bezeichnet habe. Ich habe gelernt: als alter weißer Mann soll man den Damen nicht aufs Doppelkinn schauen, sondern in die zauberhaft gütigen Augen. Ich danke für all die vielen Anregungen und freue mich aufs nächste Mal.

Wolfgang Weber brachte den Holzwürfelrapp. My name is Jack and I live in the back of the Greta-Garbo-home für gestrauchelte Jungs und Mädels. I rap the barbecue, rappe mit mir den Termin. Ich rappe und bleibe jung. Viel Erfolg dabei, lieber Wolfgang.

Nach ihm las Arved Wolff zwei Gedichte. Das erste hieß Herbstbeginn. September – im August war die Sonne noch anders. Das zweite hieß Morphin. Bin ich es, der da brennt? Tut irrsinnig weh. Ist es mein Kopf, der da über den Boden schrammt? Hart und unerbittlich hast du nach mir gegriffen, die große tätowierte Hand. Das gelesen mit seiner zauberhaften Stimme, die jemand aus dem Publikum als angenehm kriminalistisch bezeichnete.

Dann gab es die Pause. Es wurde der Themenbeauftragte gewählt für den Monat November. Klaus Kleinmann erklärte sich bereit und sein Thema wird Schlau! sein.

Außerdem wurden nach der Pause die Lesenden zum Thema Liebe mit Abstand zur 150. Offenen Lesebühne SoNochNie! am 26. Oktober ausgelost. Die Namen stehen fest, dazu gibt es Musik, improvisiert zu den jeweiligen Texten, mit Annette Wizisla. Wollen wir hoffen, dass die Texte genauso inspirierend sein werden wie ihre Musik.

Klaus Kleinmann las dann seinen Text, der eigentlich im März dran gewesen wäre, zum Thema „Faulheit“.  

Man müsste Gott sein, dann verstünde man die Kunst nichts zu tun. Er spannte einen Bogen von der Faulheit des Embryos im Mutterleib (Je mehr ich wachse, desto mehr wächst meine Welt mit mir.) über den Verlust der Möglichkeit zur Faulheit im heutigen Arbeitsleben (gnadenlose Furien des Fortschritts) hin zum faulsten aller Zustände: Wir forschen nicht, wir wissen; wir fragen nicht, wir wissen … die Antwort; wir denken nicht, wir sind. Faulheit als Existenzform der dunklen Materie oder so ähnlich. Aus dem Publikum kam der schöne Satz: Wenn ich bin, dann nehme ich alles in den Mund, nur nicht das Wort Sein.

Als nächster las Matthias Rische „Wehrhafte Natur“, die Geschichte eines Kindes, das eine Wasserphobie hat, das mit Trockenseife abgerubbelt werden muss. Meine Eltern kamen mit mir klar, weil sie es mussten. Das einzige Kind verstoßen, welche Eltern können das schon. … Die Nähe zu Ahorn und Robinie rettete mich. … Die Natur half mir, mein Umfeld zu ertragen. … Und die Mitschüler: meine sehnlichste Phantasie: ihr Ableben. Und dann, oh Wunder, alle starben sie durch das Wasser. Mit jedem toten Ex-Schüler arbeitete ich mich näher an das Wasser heran…. Alle gemeuchelt durch meine Phantasie. … Keiner hat den ersten Geschlechtsverkehr erreicht. Tja. Überwindung einer Phobie durch Mord. Ein anderer hat mit dem Thema einen Bestseller geschrieben: „Achtsam morden“.

Dann las der Martin, dessen Nachnamen ich nicht weiß. Er las weniger als dass er vortrug. Da versammelten sich verschiedene Tiere … der Fuchs raunte mir zu … hier in der Wildnis ist die grausame Natur mit ihrem Geheimnis zuhause. Es ging um eine Begegnung. … innere Haltung eher präzise zwischen den Tieren, wie ich sie traf, dort auf der Lichtung. … Was ich zu sagen hatte, hatte ich zu sagen – im Allgemeinen war das Gefühl der Tiere ja definiert. Jetzt kam es mir klar, es wurde mir gewiss. Das sind meine Stichpunkte, aus denen ich nicht mehr so recht schlau werde. Einer aus dem Publikum verortete den Vortrag irgendwo zwischen Helge Schneider und Christian Morgenstern – und an einem solchen Ort mag es sich ja ganz gut leben lassen – als Autor.

Der letzte Vortragende war Wolfgang Eubel. Mit gewohntem Körper- und Stimmeinsatz sprach er zunächst vom gierenden Publikum und dem Autor, der sich nicht entscheiden kann. Sex sells – ausgelutschtes Thema. Aber „seine“ (des Haupthelden) Frau empfing ihn im Sari mit zitternder Unterlippe, … sie kauten, sie schluckten … dann riss sie ihm plötzlich den Umhang vom Leib … jedenfalls fielen sie übereinander her und sind seither auf dem Grund des Hafens von Pompeij begraben, weil halt der verdammte Vulkan ausgebrochen ist. Das Publikum reagierte verschnupft wegen der Flucht in die Vergangenheit und weil sie nicht verstehen, warum reifere Männer so gerne über Sexualität schreiben, aber da bin ich ganz bei Wolfgang. Man muss ja wenigstens noch drüber schreiben dürfen.

Das sollte sie dann gewesen sein, die 149. Lesebühne, aber in den allgemeinen Aufbruch (den er nicht unterbrechen wollte, wie er betonte) stahl sich der vom Losglück verschmähte Pawel doch noch auf die Bühne, um uns zu verkünden: Verwirrt und losgelassen lasse ich mich gleiten; die Geister die ich rief, werden mich begleiten. Meine Geister haben keine Meister.

Wurde ja auch Zeit, dass einer dem Goethe mal Bescheid stößt.

Euer

 

Und es hat Zoom gemacht

So ist die 143. Lesebühne, die ziemlich genau ein Jahr nach dem zehnten Jahrestag stattgefunden hat, und mit einigem Fug und ein bisschen Recht also auch als Lesebühne des 11. Jahrestages bezeichnet werden darf (Hurra! Hurra! Hurra!), über die Bühne gegangen, obwohl da gar keine Bühne war, denn: Premiere!

Trilliarden von frei flottierenden kleinen DNA-Trägern zwangen uns Abstand zu halten und zuhause zu bleiben. Und da Computerviren noch nicht die Maschine-Mensch-Barriere übersprungen haben, durften wir uns unter Aufsicht jeweils eines Bundesvirenbeauftragten vor unsere Endgeräte setzen, diese sich miteinander verbinden lassen und uns gegenseitig mehr oder weniger klar erkennbar zusehen, wie wir uns so einrichten, wenn wir uns vor den Bildschirm setzen.

Allerdings gab es da schon wieder Klassenunterschiede, die an anderen Grenzlinien verliefen als in der analogen Welt. Während Matthias es sich vor seiner Wohnzimmer- oder Küchenwand bzw. –decke gemütlich gemacht hatte, stand Leovinus wie so ein zugeschalteter Außenreporter am Strand von … also Usedom, sage ich mal, war es nicht … und hinter ihm brach sich die immer gleiche Welle.

Micha saß auf dem Mond oder dem Mars oder auf Fuerteventura vor unbewegter, gnadenloser Gesteinslandschaft, woraufhin ich mich, nach mehreren Versuchen, was zu meinem Hemd passt, für ein Wasserbecken in der Alhambra entschied, aus Solidarität mit dem spanischen Volk, dessen Ausgangssperren teilweise militärisch, wie ich heute hörte, durchgesetzt werden.

Pünktlich zehn nach halb acht, als die Teilnehmerzahl auf 18 Leute angewachsen war (in der Spitze waren es irgendwann mehr als 20), eröffnete Leovinus gewohnt launig den Abend.

Der Jahrestag des Abends war nicht unser elfter, sondern der 163. Jahrestag der Inbetriebnahme des ersten Fahrstuhles mit Absturzsicherung durch den Herrn Otis, dessen Namen wir auch in moderneren Liften lesen können.

Beneidenswert nach anderthalb Jahrhunderten. Von solchen Halbwertszeiten träumen die meisten Autoren, wahrscheinlich nur nicht der Themenbeauftragte des Abends, Klaus Kleinmann, denn er schaltete sich uns nicht zu und verpasste damit seine oneandonly Chance, in die Annalen und so weiter einzugehen, und seiner Unsterblichkeit einen Dienst zu erweisen.

Vermutlich lag es am Thema „Faulheit“, das nun unbearbeitet darniederliegen muss für alle Zeiten.

Nachdem Leovinus uns die technische Ordnungsmäßigkeit des Ziehungsgerätes demonstriert hatte, indem er seinen Müslibecher (Ikea?) in die Kamera hielt, konnte es losgehen.

 

Den Abend eröffnete Ulrike Günther mit zwei Gedichten, wovon das erste sich gleich mit dem einzigen Thema beschäftigte, das uns ununterbrochen beschäftigt: es hieß „ambivalenter Abstand“ und stellte sich heraus als eine Hyperalliteration mit A.

Areal in Abschnitte

Alarm aus aufgerissenen Augen

Analysen anschauen und Anschauungen analysieren

Alles auf die schwere Schulter nehmen.

Ulrikes zweites Gedicht kam fast als Rätsel daher, hieß „Sie“ und meinte „die Zeit“. Hättest sie gerne allein, musst sie aber teilen. Naja, sage ich als alter Einsamer in der Menge: Mal so, mal so.

 

Nach Ulrike zog Leo den Joachim aus seiner Plasteschüssel.

Für den war es eine Premiere, die wegen eher technischer Gründe missglückte. Seine Geschichte hieß „Der Auftrag“. Was ich verstehen konnte, war, dass es um einen Tag im Büro ging, etwas ausgeschmückt, aber doch auch nach wahren Begebenheiten. Verlagsmitarbeiter stritten sich, ob da ein Buch veröffentlicht werden soll, dass offenbar von einem Nazi stammte. Die Lösung schien zu lauten: warten bis der Chef wieder da ist. Irgendwann hat Leo den Vortrag unterbrochen, weil Joachims Endgerät und/oder seine Leitung eine Entzündung hatten. Gute Besserung.

 

Dann las Michael Wäser, der schon bei Beginn seines Vortrages ankündigte, ihn nach der Hälfte abbrechen zu wollen, weil wir dann nicht mehr gewillt sein würden ihm zuzuhören. Und tatsächlich erinnerte mich sein Experiment an ein Buch, das ich auch nie weiter als bis auf Seite 20 gelesen habe, Georges Perecs „Das Leben – eine Gebrauchsanweisung“.

Michael beschrieb die ersten 37 Minuten vom Aufstehen bis zum Haus verlassen. Die meisten Sätze begannen mit „Ich habe … mit der rechten Hand, … dem linken Zeigefinger … das Handtuch, ohne den Ständer zu berühren … usw. alle Verrichtungen, die äußerlich wahrnehmbar diese Zeit ausfüllen, ohne Dramaturgie oder Spannungsbogen, wie so ein Wirklichkeitsprotokoll – und man mag sich gar nicht vorstellen, was aus dem Text werden würde, wenn wir noch tiefer eindringen würden, welche Hormone ausgeschüttet, welche Synapsenverknüpfungen aktiviert, welche Erinnerungen hochgespült werden bei dieser oder jener Verrichtung, welche Viren an welche Zellen andocken und sie entern, wie Magen oder Bauchspeicheldrüse … oh Gott …

Aber es ging ja primär um die Hände und was sie alles so anfassen.

Vor Corona – wurde dann in der Diskussion folgerichtig angemerkt – haben wir nie darüber nachgedacht, wo überall unsere Hände sind.

Heidi hatte sich bei dem Text eingesperrt gefühlt. Womit, fragte sie, fühle ich Zeit, und was machen wir, um nicht verrückt zu werden. Aber das gefällt ihr an der deutschen Sprache, sagte sie auch noch, dass durch Sachlichkeit etwas Emotionales entsteht. Michas Text gibt es hier .

 

Die vierte Lesende war dann Katharina Körting, sie, wie Ulrike am Beginn, eher lyrisch zum aktuellen Thema Corona, Fetzen aus ihrem Vortrag:

Wie geht es mir – ist vorerst untersagt…

Hänge vor dem Rechner, hänge durch.

Ich bin nicht systemrelevant (Willkommen im Club ;-))

Fühlt sich an wie eine Bombe, die nicht fällt, weil sie’s nicht nötig hat.

Niemandem darf ich (nicht) nahekommen

Es gilt Leben zu retten, nicht die Liebe.

Klopapier habe ich genug.

Im Café sitzen und nichts Böses denken

Das Gefühl, dass Freude ansteckend ist, nicht ein Virus

Leide ohne krank zu sein

Makulatur gewordene Plakate – wir gehen prüden Zeiten entgegen.

Was wir jetzt mal nicht hoffen wollen …

Was machen die Alkis jetzt … mit ihrer Sucht allein.

Es war der Punkt, an dem ich mir das dritte Glas Weißwein eingoss. Kostet ja zuhause nicht die Welt.

 

Aber ich habe an das Zimmer 16 gespendet – wer noch nicht daran gedacht hat … das als kleiner Einschub.

 

Mir hat Katharinas Vortrag sehr gut gefallen – ich mag Texte, bei denen ich so wunderbare kleine sprachliche Überraschungen erlebe, von denen ich glaube, sie noch nie gehört zu haben. Und hier sind sie nochmal nachzulesen.

 

Leo machte dann tatsächlich eine Viertelstunde Pause, während der wir launig schwatzten. Diese App (zoom) ist tatsächlich ziemlich cool.

Nach der Pause gab es das Küren des Themenbeauftragten für den Monat Mai – mein Mut und mein Drang waren nach dem dritten Glas Wein ordentlich gestiegen und so meldete ich mich.

Da wir keine Themenzettel einsammeln konnten, hatte Leo meinen Themenvorschlag „Der Einfluss der wachsenden UV-Strahlung auf die Hautbräune kleiner Stinktiere, wenn sie mindestens zwei Meter Abstand halten“ dankenswerterweise dekonstruiert, und mir wurde das Thema „Stinktiere“ für den Monat Mai zugelost. Tja. Händewaschen, Duschen, Desinfizieren, kann ich da nur sagen.

 

Der nächste Lesende war Matthias Rische. Sein Text hieß „Das Treppenhaus“. Marko, begann der Text, wollte so viel Feuchtigkeit wie möglich aus seiner Wohnung fernhalten. Aber es gab einen Geruch nach feuchten Schuhen im Treppenhaus. Er schrieb eine Kolumne über die Kommunikation von Bäumen, so zwang er sich, hin und wieder die Wohnung zu verlassen. Allerdings ist das Alter der Bäume schwer zu schätzen (genau wie das von Südländern oder Arabern). Der Regen wird die Antwort beeinflussen. Es ist ein Abbruchhaus, obere Etage – er arbeitet da allein für mehrere Zeitungen.

Ute fasste es in der Diskussion so zusammen: Zeit der Romantik – man weiß nicht wo’s herkommt und wo’s hingeht, aber toll.

 

Antonia spielte mit einer anderen Variante der Auswirkungen der Krise in der Zukunft. Sie stellte sich eine alle Jahre wiederkehrende Corona-Pause vor.

Bitte gehen Sie nach Hause,

es beginnt die Corona-Pause.

Wer nicht auf dem Heimweg ist, wird die Zeit in Containern verbringen.

Es ist eine Tradition geworden.

Ich war abgelenkt, weil die Rechentechnik ständig Blumenmuster auf Antonias rechte Gesichtshälfte zauberte, was ihr sehr gut stand.

Irgendwann waren rein rechnerisch zwei Millionen infiziert. Berge von Klopapier, Nudeln und Bierkästen versperrten den Flur. Wir haben Sehnsucht, deshalb feiern wir Corona-Pause. Wir arbeiten nicht, wir spielen und stopfen Strümpfe, reparieren die Dinge.

Weiß nicht warum, ich musste ständig an den Film „The purge“ denken. Wahrscheinlich wegen des geplanten Ausnahmezustandes, obwohl die Corona-Pause deutlich verführerischer und auch irgendwie erstrebenswert klang. Einen der Zuhörer erinnerte sie sogar an das österliche Geschehen. Was mich gerade zu dem Gedanken bringt, das es ja auch etwas mit Fasten zu tun hat.

 

Nun befanden sich noch zwei Zettel in der Müslischale und es erhob sich die Frage, welcher Frank gezogen wird … danke, Leo, für den zauberhaften Kalauer … Frankreich oder Frank Georg und es wurde Heidi aus der Normandie zugeschaltet gezogen. Heidi trug ebenfalls eher Lyrik vor mit der Vorbemerkung, dass man etwas verlöre, wenn man etwas übersetzt, deshalb habe der Micha ihr bei der Übertragung geholfen. Hier die kleinen Schnipsel, die ich mitschreiben konnte:

Verbotene Sonne und als zweites Ekliptia

Auf dem rostigen Boden wimmelt es. …

Ich werde wachsen, ohne dass mich ein Perverser mit Dünger erstickt. …

Die Sonne wärmt immer den Rücken dessen der versteht.

Am Ende aber, enttäuscht und bis ins Rückenmark getroffen, erlischt sie (die Sonne).

Füße haben lange Gespräche mit dem Kopfsteinpflaster geführt.

Lange hält man einen Koffer geschlossen, die Stadt gibt die Möglichkeit ihn zu öffnen. Und auch wenn man seine Koffer gepackt hat, einen lässt man immer. 

Auch Heidis Texte sind nachzulesen.

 

Als Letzter durfte ich meine Geschichte „Teure Metallzäune“ lesen, in der es um zwei Frauen ging, deren einer Ehemann sich um nichts kümmert, nur zockt – und der zweite geht fremd. Und das Happy End sozusagen bestand darin, dass die Hauptfigur die Idee nicht schlecht fand, mit der anderen Frau zusammenzuziehen. Ausgerechnet mei Fraa meinte, sie habe die Figuren nur schwer auseinanderhalten können. Schluchz.

Ute hat es dagegen gut verstanden und meinte, so wäre nun mal der ganz normale Berliner Einfamilienhauswahnsinn. Als Service des Hauses gibt es die Geschichte auf meiner Homepage zum Nachlesen, bis zu den Stinktieren im Mai, oder auch nur bis April, falls es da schon wieder was Neues aus meiner „Feder“ gibt.

 

Und das war sie, die 143. Offene Lesebühne SoNochNie!, bin mal gespannt, ob wir nach Ostern schon wieder analog im Zimmer 16 hocken dürfen. Bis dahin bx, wie meine Schwester immer schreibt. Bleibt xund.

… und dann so was!

Kein Trump, keine Merkel!, bat Moderator Leovinus zu Beginn unserer 104. offenen Lesebühne SoNochNie, die an diesem 28. November 2016 ungewohnt pünktlich begann. Sechs AutorInnen hielten sich strikt daran, die siebente nicht. Was für ein Schock!

02_s0056305Wie üblich begann alles mit dem Beauftragtenthema: „Kassenarzt“, von Petra fantasievoll ausgestaltet. „Überall Zahlen“ hieß ihr Text, in dem ein gewisser Dr. Stöhr von einer ebenso fischnamigen Patientin Frau Plötz dazu bewegt wird, sich wieder mehr den Menschen zu- und von den überall herumwabernden Zahlen abzuwenden. Zu diesem Zweck trägt er s04_s0146352eine Patientenzahlenregistrierkasse auf den Gehsteig und reinigt nebenbei seine Praxis mit einem ausgeklügelten System von der Zahlenflut. Die Herrschaft der allumfassenden Kasse stellt er nicht in Frage, doch der Versuch, den Menschen hinter den Zahlen wieder näher zu kommen, sei ihm hoch angerechnet. Ein Schelm, wer Parallelen zum realen System ausmacht. Alles in allem eine verblüffende, originelle Idee, mit dem Auftragsthema umzugehen, befand die anschließende Diskussion. Um unsere großartige neue Urkunde und das zugehörige Foto kam Petra natürlich nicht herum.05_s0166361

Auf Petra folgte Matthias mit „Begegnungen am Stadtrand“. Ein älterer Mann auf dem Weg zum regelmäßigen Golftraining, ein junger Rumäne, der von seiner anstrengenden ‚Dienst-am-Kunden‘-Nachtschicht zurückkehrt und ein sechsjähriges Mädchen auf der Suche nach einem Weggefährten. Kurze Begegnungen am Rande der Stadt. Stimmungsbilder wollte er zeichnen, sagt Matthias, und das ist ihm nach Meinung des Publikums auch gut gelungen.

07_s0246400Mit Anita begann der Advent im Zimmer 16. Ihr gleichnamiger Text erzählte ganz aus der Perspektive einer alten, vermutlich dementen Frau auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Einfühlsam und stimmig, wie die Mehrheit der Zuhörer fand. Ob es die Auflösung mit dem Tod der Dame und damit den Sprung aus der Subjektiven gebraucht hätte, blieb allerdings umstritten.

Kurios, dass sich das Los gleich darauf noch einmal für den Advent und damit für meine11_s0346461a Kurzgeschichte entschied, in der eine Zehnjährige in der Vorweihnachtszeit versucht, einen Zugang zu ihrem depressiven Vater zu finden. Ein schweres Thema, das ich dennoch gern für Kinder erzählen wollte. Die große Mehrheit der Zuhörenden hielt das für zumutbar und – gerade wegen der poetischen Bilder – auch für gelungen.

Dann war erst mal Pause. Wie üblich wählten wir unmittelbar davor den Themenbeauftragten, und zwar für die Januar-Lesebühne. Glückwunsch, Frank, du wirst ein weiteres Mal in die Annalen der SoNochNie-Geschichte eingehen. (Vermutlich hat dich die Urkunde gelockt.) Wir sind gespannt, was du aus Thema Nummer eins: „Ausgebrochen“ machen wirst.

Wer noch eine Anregung für den nächsten eigenen Text sucht – wie wär’s mit: „Banderole“, „In eine Melancholie muss man sich fallen lassen“, „Lawine“, „Rachebeschleunigung“, „Kurzschrift“, „Ja!Jaguar Jan!UAR!“, „Tortenschlacht“, „Das … Ende guter Vorsätze“, „Leichtmetall und Schwermut“ und „Aufweichung“. Los geht’s!

Im April 2017 feiern wir übrigens schon wieder ein Jubiläum: den 50. Themenbeauftragten. Dazu werden wir uns natürlich etwas ganz Besonderes einfallen lassen und euch an dieser Stelle weiter auf dem Laufenden halten.

13_s0516602Nach der Pause hat uns Frank wieder einmal in seinen Roman „Der Richter und der Fluch der Furie“ hineingezogen. Der Ausschnitt begann ein wenig trocken, weil schwarz- und rothaarlastig, entwickelte sich aber zunehmend konfliktreich und spannend. Die junge Tadschikin Summaya, die sehr erfolgreich Kleider entwirft, erzählt ihrer Kollegin und Freundin Marjorie auf dem Weg zum Markt aus ihrem früheren Bürgerkriegsleben und wartet dringend auf einen Anruf. Doch auf einmal muss sie umkehren und sich, so die Vermutung, den Geistern ihrer Vergangenheit stellen. Das Publikum war voll dabei.

Ungewöhnliches bot diesmal Wolfgang mit einer echten Geschichte, die uns anfangs alle zu Lachstürm15_s0566656en hinriss, im zweiten Teil aber etwas zerfaserte. Es ging um einen Autor, der, weil die angepeilte Lesebühne nicht stattfand, ersatzweise im Supermarkt vorlas – mit durchschlagendem Erfolg. Gute Unterhaltung, fanden wir, aber für die Wirkung bis zum Schluss: entweder früher raus oder nochmal überraschend drehen.

Zuletzt betrat Katharina die Bühne mit ihrem „Text zur (Rücken-)Lage“. „Wenn ich sterbe, möchte ich warme Hände und Füße haben“, so der private Rahmen zur öffentlichen Hinterfragung. In w18_s0666770as für Zeiten leben wir eigentlich? Warum gehen uns die Despoten und Schwarzweißlinge nicht endlich mal aus, im Gegenteil? Und da platzte er dann tatsächlich in den Abend, Donald Trump. Schreckensstarr beobachteten wir Leovinus. Würde er das überleben? Er tat’s. So konnten wir uns entspannt auf diesen doch auch sehr persönlicher Text einlassen. Vielleicht hätte Caligula als Dämon genügt und Trump wäre verzichtbar gewesen, denn beide ähneln sich im nicht Ertragen eines jeden „Dazwischen“, das uns Autoren praktisch die Luft zum Atmen ist. In diesem Sinne: Auf das Dazwischen und alle zukünftigen Lesebühnentexte die ihm weiter nachspüren!

Danke wieder einmal, Michael, für die Fotos zu diesem feinen Abend!

Leovinus machte abschließend Werbung für unsere SoNochNie-Kerngruppenlesung am 8. Dezember 2016 um 19.30 Uhr in der Janusz-Korczak-Bibliothek Berlin-Pankow. Kommt am besten alle dort hin und brecht mit uns zu neuen Ufern auf!

Und am 26. Dezember (ja, ganz richtig, das ist der zweite Weihnachtsfeiertag) sehen wir uns dann wieder im Zimmer 16 und freuen uns auf unseren Themenbeauftragten Matthias.

Gift oder (Text von Katharina Körting)

Auszugsweise Assoziationen als Annäherung der SO NOCH NIE-„Themenbeauftragten“ im Oktober 2016

(für M.)

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht‘s, dass ein Ding kein Gift sei.“ (Paracelsus 1538)

***

Fragment I

Gift oder
Die auf die Spitze getriebene
Alternativlosigkeit
Die Alternative ohne Alternative

Gift oder Lüge?
Verhältnismäßig
brav, die Frage
Ein Oder kann eine Menge
gaukeln
giftiges Oder
giftiger Fluss
Abgrund
in jeder Minute vergiftet eine wahre Begebenheit
die sekundengenauen Lügen
Gegenwart ist immer Gift für die Vergangenheit oder
umgekehrt
Sachte verklebt sich das Assoziationspuzzle oder
Teile sind eingerissen, andere
fehlen

Gift, oder?
Für Einsamkeitshungrige ist jede Liebe ODER
lebenslänglich
Gift
– und?
Ellipsen sind tückische Gesellinnen
entzückt übers eigene Humpeln
bringen sie die Tinte zum Stocken
ersticken die Sehnsucht nach Eindeutigkeit
nur um sie neu anzufachen

Gift oder…
das Weiße der Seite, das nichts von sich weiß

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Fragment II

Gift oder verweigert die „Botschaft“, ergibt nicht mal den erkennbaren Willen einer Verständigung. Allein lässt mich Gift oder, wird als amputiertes Wort-Ding, das nicht mal metaphorisch ist, zum Schreibstoß: Allein mit Gift oder bleib ich wie jeder der Sprache verhaftet, verdammt, Bilder und Töne zusammenzusetzen, in Worte zu fassen – Metapher! – zu greifen, was ungreifbar bleibt – Gift, oder? Gnade!
Die Sprache als „Objekt und Subjekt zugleich“ (Drawert) liefert mich als ihr Objekt und Subjekt aus an den magischen Zirkel, offen ins Unendliche
Schreibe ich
um der Worte willen atme ich
zwischen Leben und Tod oder Leben oder Tod
Sprache atmet
Gift oder
Vielleicht sollte ich den Argwohn der Leerstelle – oder Was? – für sich stehen lassen. Die Zeit drüber hin weg gehen lassen. Den Metaphern eine sprachlose Auszeit gönnen
Gift oder? Wesen? Zauberhaft, dass selbst keine Metapher
mich an meine Deutungshoheit ausliefert.
Gift oder wird zu Papier, doch ohne Körper hilft kein Code der Welt, das Tintenrätsel zu knacken, das sich immer neue Finten aufschließt, Türen öffnet und versperrt.
In Bewegung bleiben! Sich nicht geschlagen geben! In jedem Moment! Von der Hand in den Kopf in den Unterleib in die Zunge
Sprechen
unmöglich ohne Bewegung der Lippen, des Herzens, der Lunge, jeder Faser und Zelle, in jedem Text gefangen und freigesetzt. Klang. Gegenteil von Verdinglichung: Schwingung. Resonanz. Aus Tönen Bilder, in jedem Kopf eigene, klingende Bilder, die klagen, die frohlocken, die sich schmecken lassen. In ihnen leben wir. Ohne sie stürben wir. In ihnen verlieren wir uns. Mit ihnen sterben wir. Dürfen mehr sein als „ich“, und tröstlich weniger, denn was wäre ein „ich“ ohne „Du“?, was ein Wort ohne Ohr, was ein Satz ohne Augen, die ihn lesen.
Gift oder Schutz oder
Befreiung?
Gift oder
Pistole. Gift oder kein Leben. Mit erhobenen Händen
ergeb‘ ich mich dem Daseinskrimi der Worte, bleibe Täterin, Leserin, Überlebende, die jeden Zettel auf der Straße aufhebt, um zu schauen, ob ein Code, ein Gedicht darauf steht
Nichts oder alles? Gift oder
die Rettung?
Jeder Schritt eine Aufforderung zur Nachfrage, jeder Blick ein Hirngespinst aus Texten. Schreibe Muster ins Gewebe – oder webt es sich? Die alte Frage steuert mich durchs Tintenmeer, und Gift oder ist eine der Klippen, Frage und Antwort zugleich,
Perpetuum mobile wie alle Buchstaben, die zu Wörtern zusammengesetzt, zerschellen
Spiel
Unlösbare Aufgabe
Alles gilt.
Nur Aufgeben nicht

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Fragment III

Gift oder
blauhelle Freundlichkeit
neben zuverlässigen Schienen
die Welt eine Fensterscheibe
angeflogen von Gedankenfliegen
Die Welt ein Kind liebarmer Eltern
geboren im Streit greiser Götter
zerrissene Hosen trägt es
einen Ring in der Nase
und Gift oder
nichts
nur sein Herz auf der Hand
Ewiges Angebot an das Große Schweigen:
Nomen, Verb, und Adjektiv
und die Bindeworte, Personalpronomen, Artikel und die
etceteras, denn
hinter dem Wort kommt das Wort vor dem Wort
Fügewort: Hinter oder und und kann alles
passieren
außer nichts
Gift oder du
bist persönlich gemeint
DIE LETZTE ENTSCHEIDUNG
verweigernd, die Grundlegende
Zumutung, jeden Tag oder und nachts
Welches Wort klingt und
welches klingt schal?
Oder Lust? Oder Luft? Oder Leben?
Gift oder
Schreiben
geht nicht oder

Text & Fotos: Katharina Körting, Oktober 2016

Stefan Großer Mann

„Dies ist meine letzte Moderation der Lesebühne im Zimmer 16“ – damit eröffnete Stefan den Abend Nr. 101 und hätte mich damit vom Stuhl gehauen, wenn er mir die traurige Nachricht nicht bereits kurz vorher mitgeteilt hätte. Stefan ist Mitbegründer der Lesebühne SoNochNie, hat beinahe alle Ausgaben als Moderator geleitet und behütet und war den Teilnehmenden immer ein charmanter und interessierter Gastgeber. Jetzt zieht er raus aus Berlin ins Grüne und es gibt neue Aufgaben für ihn, die er der Lesebühne vorziehen muss. Wie es nun ganz ohne seine Anwesenheit bei der Lesebühne weitergeht, das müssen wir sehen. Anders. Nicht im Prinzip, aber im Gefühl. Stefan, wir werden dich vermissen hier im Zimmer 16 und wir wünschen dir alles Gute in deinem neuen Lebensabschnitt, von Herzen!

Noch ein letztes Mal also stellte er die Lesenden des Abends vor, traditionellerweise angeführt von der Themenbeauftragten, der SNN-Debütantin Ulrike Stockmann. Hals über Kopf hatte sie sich bei unserem 99. Jubiläum bereit erklärt, zum Zuschauerthema „kleiner Mann“ einen Text zu verfassen, und genau den las sie nun vor. Es war ein Text darüber, wie sie versucht, einen Text zum Thema „kleiner Mann“ zu schreiben. Titel: „Kleiner Mann“. Und tatsächlich wurde aus der Nacherzählung ihrer Bemühungen, Orientierungsverluste, Suchaktionen und Ideen seit ihrer Wahl zur Themenbeauftragten eine Geschichte, eine: Humoreske über das Schreiben zwischen Hitler und Playmobil. Leichtes, wie jemand meinte: „Gefälliges“ hört man nicht so ganz oft bei SoNochNie, doch öfter als gar nicht, und ihre leichtgestimmte Geschichte war also eine runde Sache, mission accomplished!

Auf Leichtes bezog sich auch Katharina Körting, die als Zweite am Tisch Platz nahm, nämlich auf Tucholskys „Rheinsberg“. Sie las ebenfalls zum allerersten Mal bei SNN, doch ihre kühl beobachtende Variation einer nicht gelingenden Romanze zwischen Schloss und See, auf einer Schreibmaschine verfasst wie ihr Vorbild, griff schon fester zu, sodass es auch wehtat, die beiden dabei zu begleiten, wie sie „nicht aus ihren Käfigen“ kommen und „sich an der Sehnsucht des Anderen“ eben nur reiben. Sprachlich wirklich prägnant und bildhaft, erzählerisch genau hinsehend, ohne Angst vor Unschärfen, Momenten der Unbestimmtheit im Zusammensein zweier Menschen, die so schwer zu beschreiben sind – sie machte sie spürbar.

Wolfgang Weber begab sich dann auf die Spuren des aktuellen Berliner Kulturkampfes um die Volksbühne. „VB Riots“ – inspiriert von einer simplen Störungsdurchsage in der U-Bahn bezüglich des Rosa-Luxemburg-Platzes trug uns in seiner typischen assoziativen Manier herumspringend von einem Ort, von einem Namen und einem Zusammenhang zu nächsten und kreuz und quer und wieder zurück, immer rundherum in der U-Bahn rund um die Burg, die Volksbühne, die Belagerer, die Verteidiger, die Schwarzen Ritter im Roten Rathaus, rhythmisch eingetaktet mit zwei Teedosen, in denen Stifte herumkollerten, Musikmotive draufgedruckt. Riots, Unruhen, Wolfgangs sprachliches Heimatgefühl.

Stefan durfte nach der Pause Katharina zur Themenbeauftragten des Monats Oktober küren, denn sie meldete sich mutig und freiwillig. Sie lehnte ihr erstes Los mit dem Zuschauervorschlag „In der Kürze liegt die Würze“ ab und musste Los Nr. 2 nun nehmen: „Gift oder“ (worüber ich mich freue, weil es mein Vorschlag war!) Am 24. Oktober dürfen wir auf ihren Text gespannt sein!

Matthias Rische ließ uns „Lydie und ich“ kennenlernen. Sein konzentrierter, intensiver, lyrischer Text erzählte – von einer Liebe? Zwischen Mann und Frau? Über eine Lebensspanne, vom Sandkasten bis ins Alter? In den Tod? Den Tod des gemeinsamen Kindes? Über die Trennung hinweg? Er, sagt Matthias, wollte einen Text aus Bildern zusammensetzen. Ist wunderschön geworden.

Inka Bach  (ebenfalls zum ersten Mal an unserem Lesetisch!) und ich stellten zum Abschluss des Abends unser „Neuer See“-Projekt vor, unsere „Kleinigkeiten“. Ein Jahr lang trafen wir uns immer wieder im Tiergarten, verbrachten ein, zwei Stunden gemeinsam am See und schrieben anschließend, jeder einen kurzen Text, angeregt von diesen Treffen. Eine Art Zwiegespräch in lyrischer Prosa, ein Hin und Her der Gedanken und Motive, der Themen und Fragen. Fast unbehauen, „first draft“, und noch niemand hatte es zu hören bekommen, also waren wir gespannt, was wir zu hören bekommen würden. So spät der Abend schon war und so herausfordernd manche der Texte wohl auch sind, das Publikum gab uns anerkennendes Feedback, anregende Gedanken, Zuversicht, dass wir uns nicht heillos verrannt haben damit, denn experimentell immerhin war es schon irgendwie, unser Vorhaben. Es klinge wie ein Hörspiel, schnappte ich noch auf. Froh also, danke, wir machen uns an die Arbeit! (Leider konnte ich kein Foto von uns machen, da ich auch noch Notizen für den Bericht aufschreiben und selbst lesen musste – außer mir war niemand vom Kernteam da – Ferien!)

Am 26. September sehen wir uns hoffentlich alle wieder im Zimmer 16 (leider ohne Stefan), Themenbeauftragter bin ich dann selbst mit dem Thema „Trennungsglück„.