Entstundete Zeit

Zunächst gab es die drei großen frohen Verkündigungen, nämlich erstens, dass der Verein Mikado e.V. als Träger des Zimmer 16 einen neuen Vorstand hat, dass zweitens am 25.12., also am ersten Weihnachtsfeiertag die 187. Lesebühne stattfinden wird, und dass wir drittens nächstes Jahr im März den 15. Jahrestag der Offenen Lesebühne SoNochNie! begehen werden, der einzigen Lesebühne mit einer mehrstrophigen Hymne.

Begleitet vom Jubel der zahlreich erschienenen Gäste betrat sodann der Themenbeauftragte die Bühne, Matthias Rische, der eine Geschichte zum Thema „Faulheit“ vortrug mit dem naheliegenden Titel „Abschaum“. Es ging um einen Mann, dem sein Arzt nahelegte kürzerzutreten, weil … äöhm, … das habe ich vergessen, aber warum soll einem ein Arzt empfehlen kürzerzutreten, wenn nicht deswegen, weil der Arzt selbst kürzertreten will oder soll. Er solle sich ein Beispiel am Faultier nehmen. Aber Faultiere scheiden alle acht Tage nur Exkremente aus, in ihren Bauchfalten gedeihen Algen, der Protagonist sah ein Problem, wie er das wohl hinbekommen sollte. Über diesen Gedanken unkonzentriert geworden stürzte er und kam nicht wieder hoch. Niemand half. Und er sah sich zu Abfall, zu Abschaum werden. Er dachte über die Langsamkeit des Verfalls nach. Und in dem Zusammenhang fiel der schöne Satz: „Das hat der Mensch gebaut, das kann der Mensch auch besudeln.“ Wahrscheinlich wollte er schon nach kurzer Zeit Exkremente ausscheiden.

Wir feierten an diesem Tag einen Rekord, glaube ich. Es lagen zwölf oder dreizehn Lose in der Amiga-Schüssel. Mindestens die Hälfte aller Lesewilligen (darunter mich – schluchz) mussten wir am Ende ungelesen nach Hause schicken.

Außerdem gab es einige neue Gesichter auf der Bühne, z.B. Stefanie Talaska (Alaska mit T vorne dran). Sie las drei kurze Miniaturen, zunächst über Horst Seehofer, der seine Mausi fragte, ob sie noch wach wäre, weil er vor dem Einschlafen noch ein bisschen lieb zu ihr sein wollte, um am nächsten Morgen nach Berlin zu fahren und dort gegen ein Gesetz zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe zu stimmen. Dann gab es eine Miniatur über Maxim Biller, von der ich mir nur notiert habe, dass er gerne lecke, weil er beim Lecken etwas anderes sein könne, ohne seine Begabung aufzugeben. Immerhin habe ich mal nachgelesen, wer Maxim Biller überhaupt ist. Und dann ging es noch um das, was andere Menschen gerade eben tun (während wir in der Lesebühne rumoxidierten), nämlich um ihr Leben und ihre Lieben kämpfen. Alle hatten verstanden, dass es um Flüchtlinge ging, nur ich nicht.

Als dritten Lesenden spuckte unser Feuerkelch Wolfgang Eubel aus, der in mittlerweile bewährter Manier Lose ziehen ließ, welche Nummer er aus seinem Vermischten vortragen solle. Diesmal ließ er an der Bar ziehen. Zunächst gab es Nr. 13, zu der er den Hinweis gab, dass das letzte Wort des ersten Satzes mit einem „h“ geschrieben werde. Der Satz lautete: „Die Zeit hat nur eine Uhrsache.“ Und ich bin sehr stolz, dass ich weiß, wo das „h“ im letzten Wort wahrscheinlich hingehört. Und sie bereite uns jede Menge Probleme, seitdem „er“ sie erfand. Ich bin mir nicht sicher, ob Wolfgang uns verraten hat, wer „er“ in diesem Zusammenhang gewesen sein soll. Dann gab es die Nr. 12, in der es darum ging, dass die Radiosender alle dieselben Songs spielen, oder war das schon die Diskussion, in der das Thema aufkam, dass Musik zu einem Einheitsbrei verkommen wäre, was Wolfgange Weber bestritt. Zum letzten gab es noch Text Nr. 7 mit der These: „Gib einem Menschen einen Fisch, und er ernährt sich, gib ihm eine Angel, …“, nun, ich habe es so verstanden, dass die Angel als Vorstufe des Schleppnetzes und der Aquakulturen etwas Verwerfliches wäre, was ich nicht ganz bestätigen kann, weil auch ich meinen Fisch entweder im Kaufland oder auf dem Wochenmarkt erwerbe, wo ein geangelter Fisch ein Wunder und ein Ausbund an Naturverbundenheit wäre.

Vor der Pause wurde dann von meiner Losfee Wolfgang Weber Wolfgang Weber gezogen. Er nahm Bezug auf eine Website namens Wind.cel[1]. Also da habe ich wohl etwas falsch verstanden. Gibts nämlich nicht. „Warten, immer nur warten, warten auf Godot. … Internet oder Godot? … Manche glauben, ohne Wind kein Internet. … Futur, Futur toujours, … www.wind.cel, kommt von celestis, himmlisch[2], … von Erhebung zu Erhebung, klopf, klopf. … Das Inter ist nicht immer nett. … Draußen heult der Shitstorm. … Warten auf nettere Umgangsformen, ich glaube, Godot kommt zuerst. … Wehlan for the people.“

Das waren meine Notizen vor der Pause. Nach der Pause gab es die Wahl der Themenbeauftragten für den Monat Januar 2024. Noch ist ungewiss, ob es der 22. Oder der 29.1. sein wird, hängt davon ab, ob am 1. Januar eine Offene Bühne stattfindet, und wenn nein, ob sie am 8. Januar nachgeholt wird. Wir halten euch auf dem Laufenden. Als Themenbeauftragte meldete sich ohne schuldhaftes Zögern die Swantje Lange, und sie wählte das Thema „Am seidenen Faden“. Ein sehr schönes Thema, wie ich finde, griffiger als meins für Dezember, das da lautet „Zischen“.

Die erste Lesende nach der Pause war Vera Fang. Ihr Text hieß: „Ich bin, was ich bin“, ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein, es ging ums …

Nein, gespoilert wird nicht, es sollte eine Überraschung bleiben. Es ging darum, dass die Alten sie in die Außenhöhlen gerufen hatten. Die dritte Generation unseres Stamms. Sie, die Ich-Erzählerin, beschrieb sich selbst genau wie ihre Mutter als Individualistin, Außenseiterin. Trotzdem sollte sie nicht aufsässig sein, weil es das Ansehen der Oma beschmutzen würde. Dann sollte alles sehr schnell gehen. Sie standen kurz vor der replizierten Niederkunft. Sie würde eine Schwester bekommen, genau wie sie selbst. Dann folgten zehn lange Sekunden eines Countdowns, nach dem die Umsiedlung erfolgen sollte, vorher musste sich noch verkapselt werden. Und dann ging es per explosionsartigem Vorgang zwei Meter weit aus der Höhle hinaus, und da wusste man nicht, wo genau der Stamm sich nun ansiedeln würde, auf der Küchenarbeitsplatte, im auf dem Herd köchelnden Gulasch oder gar an einer Fensterscheibe und wie die Lebensbedingungen da sein würden. Von einem Taschentuch war keine Rede.

Dann las Paul Kustermann. Er las eine Geschichte über Packo, ich schreib den jetzt mal so, könnte auch Pacco sein, ein älter gewordener Phantast. Es gab eine Show in seiner Wohnung, 20 Freunde, er spielte auf einer Domra[3] russische Volksmusik. Während seines Spiels musst er eine kaputte Saite wechseln, was der Erzähler peinlich fand, und der anschließende Konflikt bestand darin, ob man Packo das sagen dürfe. Aber dann wurde der Ich-Erzähler bäuchlings auf einen Stuhl geschnallt und geschaukelt, und plötzlich flog er über der Schönhauser Allee, so dass mir schon beim Zuhören schwummerig wurde. Es wurde klar, dass er träumte, und zwar, dass Matthias gestorben wäre. Dass man trauern müsse um all die Packos, die uns verlassen haben. Ist, fragte sich das Publikum in der Diskussion, Matthias vielleicht Packo? Man weiß es nicht. Im Traum haben Personen oft nur einen Bezug zur Person, sind nicht die Person selbst. Paul sagte auch noch den schönen Satz: „Eine Geschichte schreibt sich so, und dann fragt man sich, wieso.“ Die Themenbeauftragte für Januar, Swantje Lange las drei Miniaturen. Ich habe mir die Fragestellung aufgeschrieben, ob sich bei anderen Menschen auch alle Gedankengänge wiederholen. Was soll ich dazu sagen? Ja. Tun sie. Sie hatte auch wieder eine assoziationsreiche Stichpunktliste dabei. Wolfgang Eubel wars, wenn ich mich recht entsinne, dem auffiel, dass es am Anfang hauptsächlich Substantive, später auch Adjektive und Adverbien waren, ich muss mal recherchieren, was ein Adverb ist, ich weiß, ich sollte das wissen, aber vielleicht kann mir in diesem meinen Text mal jemand markieren, was alles ein Adverb ist, damit ich das mal lerne. Ich habe mir notiert, was an Wort immer gerade dran war, als ich das vorhergehende zu Ende geschrieben hatte, und selbst da ist eine ansehnliche Liste herausgekommen: „Vogelschar, Lavendelfeld, Freiheit, Geldübergabe, Korbgeflecht, Gewissheit, immer wieder, Adjektiv, wie ist es?, Tragen, Gebäude, Kerzenschein, Weihnachtsbaum, charakterschwach, Struktur, ausgeglichen (ist das ein Adverb?), Peace-Zeichen.“ Während ich mitschrieb, fühlte ich mich an Schreibübungen erinnert, bei denen nach zwanzig Minuten jemand dazukam und ein Wort in die Runde warf, das man dann im weiteren Verlauf der Geschichte sinnvoll unterbringen musste. Und ich dachte, wie wäre es, aus dieser Wortaneinanderreihung eine Geschichte zu machen. Würde bloß niemandem auffallen. Zum Schluss las Swantje eine Geschichte, wie ihr der Tod des Schmetterlings das Herz brach. Schmetterlinge leben nicht lang. Im Grunde ging es darum, dass sie dem Boten der Nachricht, ihrem LAG, irgendwie die Schuld daran gab, oder er zumindest sich am Ende schuldig fühlte, aber auch nichts tun konnte, … Ich warf in der Diskussion ein, dass Möwen mehr als dreißig Jahre alt werden können. Aber das hilft den Schmetterlingen nicht wirklich.

Weil so viele der Lesenden mit kurzen Texten ankamen, die das Umdrehen der Sanduhr nicht verlohnten, hatten wir beschlossen, ein Bonus-Los zu ziehen. Die letzte Lesende war Lorena Spitzmüller. Sie hatte zwei Gedichte dabei, eins namens „Ausdauer“ und eins, das „Der Wolkenteppich schimmert“ hieß. Das erste kann man auf Instagram oder Facebook nachhören und sehen, denn wir haben es nach dem Ende der Veranstaltung noch aufgenommen. Wir planen, von jeder Lesebühne einen kurzen Videoschnipsel zu veröffentlichen. Wir sind noch in der Diskussion, wie wir den oder die Glückliche(n) auswählen. Lorenas Gedichte fanden viel Zustimmung. Es ist nur schwer, Poesie in so einem Protokoll wiederzugeben. Fingerkuppen, die verbunden werden müssen, weil sie sich an Beton immer wieder aufschürfen. Ein zweiter Ozean als Nebeldach über mir. Leere, die sich um den Hals schmiegt wie Staub. Entstundete Zeit.

Lorena fand viel Zustimmung und bekam begeisterten Applaus. Sie hatte auch ein Buch dabei, das sie als Prototyp für sich selbst gestaltet hat mit eigenen Illustrationen. Mit diesem lyrischen Abschluss fand die 186. Lesebühne ihr Ende. Bis zum nächsten am Mal am 25. Dezember 2023, Euer


[1] Nein, ich glaube, er hatte seinen Text so genannt.

[2] Celestis, Inc. is a company that launches cremated human remains into space, a procedure known as a space burial.

[3] Die Domra (russisch Домра) ist eine in der russischen Musik gespielte Schalenhalslaute.

Verführt mich kein Emoji-Kuss, auf den ich reagieren muss …

Zum Beginn der 184. Lesebühne habe ich die Regeln vorgestellt, von denen die ersten beiden lauten, dass die Autorinnen und Autoren (AA) die Zuhörerinnen und Zuhörer (ZZ) ehren, indem sie interessante Texte verfassen, (nach den Regeln 1-9 Billy Wilders: Du sollst dein Publikum nicht langweilen!) und umgekehrt ehren die ZZ die AA dadurch, dass sie aufmerksam zuhören und hernach halt was Gescheites zum Gehörten äußern, das die AA in ihrem künstlerischen Schaffen weiterbringt.

Da diese Grundregel nicht auf Widerspruch stieß, konnte mit der Themenbeauftragten (Thema „Beten“) begonnen werden. Vera Fang gab eine sehr amüsante Geschichte über die Geschäftsverteilung im Himmel zum Besten. Eigentlich wollte sie der zuständige Bearbeiter zur sofortigen Wiedergeburt zurück auf die Erde schicken, denn zum Verweilen in der Ewigkeit braucht man besondere Fähigkeiten, aber ein Tinnitus reichte dann schon für einen Job in der Poststelle (Gottes Ohr). Tosender Applaus belohnte Vera für ihre zauberhafte Glosse über die Ämterverteilung in der Ewigkeit, die in meinem (Gottes?) Ohr doch sehr der des Amtes glich, in dem ich arbeite. Dann, dachte ich, vielleicht doch lieber Ende im Gelände mit Vermodern und allem, denn wozu soll das Leben im Himmel gut sein, wenn es dem auf der Erde gleicht?

Torsten Wichert war der zweite Lesende des Abends, er las drei Texte und kam damit durch, weil man bei den ersten beiden gut denken konnte, dass es Gedichte waren. Es waren aber eher Rätsel, die mit Doppeldeutigkeiten spielten. Das erste hieß „Beste Freunde“. Es lief darauf hinaus, dass „ich dich leer ganz gut hergeben kann“, und wenn ich mich recht entsinne, ging es um den Geist in der Flasche. Der dritte Text war dann doch Prosa, und es ging um den „falschen Zug“. Ein Zug kann falsch sein, wenn darin ein Lächeln mitfährt, das man festhalten will, und der Chef einen zwingen will, einen früheren Zug zu benutzen, damit man pünktlich zu einem Meeting erscheint. Die Geschichte hat berührt, auch wenn es in der Diskussion dazu den Vorschlag gab, dem Lächeln etwas mehr Personality zu geben, worauf aus den hinteren Reihen der Gegeneinwand kam, dass es der Zauber der Geschichte wäre, dass sie alles darstelle, wie es gewesen sei und nichts hinzudichte. Der GvD (Germanist vom Dienst) hatte sich gefragt, ob die Geschichte existenzialistisch wäre oder der Ich-Erzähler einfach nur zu blöd, das Lächeln anzusprechen.

Wolfgang Eubel war denn auch gleich der nächste Lesende, wie immer ohne Mikro und diesmal auch ohne Stuhl. Er habe sich von unserem Lostopf animieren lassen und ließ uns nun auch Lose ziehen. Er trug aus der Sparte „Vermischtes“ vor, Texte, die in seiner Restekiste schlummern, weil sie es nicht in ein Hauptwerk geschafft haben. Gezogen wurden die Nummern 15, 16 und 26. Nr. 15 fragte sich, warum amerikanische Wissenschaftler immer so exaltiert sprechen, ob das eine Spätfolge von Amerizin sei, einer Droge, die schon die Pilgrim-Fathers zu sich genommen haben müssen, und die sie in bombastische Entrückungen versetzte. Nr. 16 behandelte die Lästigkeit und Unverzichtbarkeit des Genderns. Wenn das Maskuline als generelles Genus eine halbe Ewigkeit funktioniert habe, könne man doch auch das Feminine (für eine Übergangszeit) als generelles Genus anwenden. Das erinnert mich an meine Idee, dass doch einfach Frauen in der weiblichen Form und Männer in der männlichen schreiben sollten. Nr. 26 ging auf den Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft ein. Die Liebe sagt: Ich will Dein Bestes (Dein Geld, würde Otto hinzufügen); die Freundschaft sagt: ich will das Beste für Dich. Sie ist selten und kostbar.

Dann las Matthias Rische einen Text mit dem Namen „Dijon schweigt“. Ich wollte eigentlich noch fragen, ob ich den Namen richtig verstanden habe, aber Dijon ist ein zwar seltener, gleichwohl existierender Jungenname. Es war eine sehr düstere Geschichte über einen Jungen, der von zuhause weglief, der Trennung seiner Eltern eine weitere hinzuzufügen. Er schlürfte an einem Erdbeershake, den er einer rüstigen Alten abgeschwatzt hatte. Er strandete an den Landungsbrücken, wo er an seine Tante und glücklichere Tage dachte. Es ist oder wird dunkel. Auf dem Mittelstreifen unter der U-Bahn sieht er Gestalten, die sich um einen Liegenden oder Kauernden drängen und ihn mit etwas übergießen. Er erinnert sich, wie er seinen Vater zuhause sah, wie er auf eine Foto pisste. Er sah ein Streichholz aufflammen und dachte an seinen zehnten Geburtstag, die Wunderkerzen und den Kuss der Mutter. Dann der aufflammende Mann. Jemand benennt ihn als Zeugen (Da, der Junge hat alles mit angesehen.) Aber Dijon schweigt.

Mir wird jetzt noch ganz düster im Herzen, obwohl ich im Sonnenlicht an der Ostsee sitze, während ich diese kurze Zusammenfassung schreibe. Matthias schob dann noch einen Werbeblock für seinen Erzählband „Die Mimik der Haie“ ein, der im Periplaneta-Verlag erschienen ist.

Dann war Pause und es erfolgte die Kür des Themenbeauftragten für den Monat November, und siehe da: es ist Matthias Rische, und sein Thema lautet nicht Toilettenpapier, welches seine neben ihm sitzende Muse zuerst zog, sondern Faulheit. Tja. Was soll man dazu sagen? Wenn er es wörtlich nimmt, kriegen wir wohl nichts zu hören. Aber vielleicht macht Matthias sich ja ganz fleißig über die Faulheit her.

Die erste Lesende nach der Pause war Hanni (Hannelore) Krug. Und da sie nicht selbst lesen wollte, habe ich das übernommen, was den Nachteil hat, dass mir nun keine Notizen zu ihrer Geschichte vorliegen. Es ging um eine Exposé zu einem Roman über „Herzensträume“ und eine Labormaus namens Fiorina, die sich irgendwie befreite und auf einer fernen Insel (ihrer Träume) ihren Traum-Mäuserich fand, der noch dazu froh war, eine Maus zu haben, die lesen konnte. Ach ja, das Lesen hatte sie an einem Zeitungskiosk gelernt, wo sie dem Zeitungsverkäufer dabei half, die Schnüre durchzubeißen, mit denen die Zeitungen verpackt waren – gute alte Zeit. Hanni stellt sich das Buch als eines vor, das Großeltern ihren Enkelinnen vorlesen. Ich persönlich habe so meine Probleme damit, dass jede(r) seinem/ihrem Herzenstraum folgen soll. Ich fürchte, das würde in einer dysfunktionalen Gesellschaft enden, in der es nur noch Künstler und keine Handwerker mehr gibt. Außerdem sind die größten Traumerfüller oft auch die Voldemorts dieser Welt gewesen. Aber: es war ein zauberhafter Romanentwurf, der seine Zielgruppe erreichen dürfte.

Dann rief Wolfgang Weber uns auf: „Schreib Deinen Text!“ Diesmal wieder unter Einsatz eines Klangholzes. Schreib’s auf, Schluckauf, viel Glück beim Nudelauflauf. Mach’s wie Egon Erwin Kisch, leg deinen Text frisch auf den Tisch. Es gab einen Einschub namens Schreibmaschinenstraße mit dem Hinweis auf die verschiedenen Tastaturen (Qwertz oder Qwerty) und eine Erinnerung an das Einlegen neuer Farbbänder. Gudrun meinte, der Text habe perfekt ihre Stimmung beim Schreiben wiedergegeben. Und ich habe mich erinnert, wie ich – das erste Mal mit den verschiedenen Tastaturen konfrontiert – ewig gebraucht habe, bis ich begriff, worin der Unterschied zwischen Qwertz und Qwerty liegt. Quantenwortersatztastaturzahl. Habe ich mir eben ausgedacht. Habe ich nicht damals gedacht.

Den krönenden Abschluss des Abends vollführte Stefan Franken. Der Zauber seiner Gedichte oder gedichteten Geschichten liegt in dem wunderbaren Geklapper überraschender und treffender Reime, die in mir immer ein wohliges Gefühl des Aufgehobenseins erzeugen, das ich auch bei Wilhelm Busch oder Heinrich Heine empfinde. Diesmal hieß sein Werk „Digital Detox Idylle“ und es ging um das Experiment, das Smartphone mal eine Weile auszulassen. Ich schlafe ein in meinem Bett und bin bereit für den Reset. Er beschreibt, wie er am Ostseestrand nichts fotografiert, nichts postet. Bin ganz allein in der Welt, was mir ganz gut gefällt. Das habe ich falsch aufgeschrieben, der Rhythmus stimmt nicht ganz. Sorry. Er reimte noch analog auf Schweinetrog. Die Pointe ist, dass er, als er wieder online geht, feststellt, dass ihn niemand vermisst hat, all seine Follower woanders hingewandert sind. Ich habe zu wenige Beispiele notiert, weil ich im Mitschreiben immer die Hälfte verpasse, und dieses Genusses wollte ich nicht verlustig gehen. Aber den hier noch: Verführt mich kein Emoji-Kuss, auf den ich reagieren muss. Ja! Genau!

Und mit diesem Schmankerl endete die 184. Offene Lesebühne SoNochNie! Die nächste gibt es am 23. Oktober. Bis dahin verbleibe ich als von A-Z beglückter Moderator. Euer

Ich hatte wirklich keinen Schnall!

Die 180. Lesebühne SoNochNie! war eine sehr schöne und vielfältige. Unser uns leider bald verlassender Moderator Leovinus alias Norbert Wurzel hatte diesmal gleich mehrere Jubiläen im Angebot, um für den Rest des Jahres vorzuarbeiten vermutlich. Vor 33 Jahren sei Windows 3.0 auf den Markt gekommen. Ich bin trotz aller Widrigkeiten überzeugter Windowsianer, ich habe es mit Apple probiert, aber es ist halt so: ich stehe lieber am Fenster als in einen Apfel zu beißen. Ich beiße auch nicht an einem Fenster in einen Apfel.

Vor noch längerer Zeit, nämlich vor 43 Jahren, ist das Computerspiel Pac-Man – (ich kann das nur richtig schreiben, weil ich es gegoogelt habe – wobei ich auch hier in einem Wandlungsprozess stecke – ich binge jetzt) – erfunden worden – aus dem Betrachten einer Pizza, aus der ein Stück herausgeschnitten war, was den Erschaffer, Tōru Iwatani, zu der gesunden Paranoia trieb, dass die Rest-Pizza ihn verfolgen und fressen könne. Ich habe es Gott sei Dank nie gespielt, aber diesen gelben Kreis mit dem aufgerissenen nimmersatten Maul kenne ich auch.

Das Hauptjubiläum war aber der 890. Geburtstag von Sæmundur Fróձi, ein isländischer Gelehrter, Fachmann für Trolle und Teufelsüberlister, der einst den Teufel selbst dazu brachte, ihn als Seehund verwandelt trocken von Frankreich nach Island übers Meer zu bringen, der kurz vor Island den Teufel-Seehund mit einer Bibel auf den Kopf schlug, so dass dieser unterging und er für die Dienstleistung nicht wie versprochen seine Seele in Zahlung geben musste. Ein Teufelskerl halt. Irgendwie hatte Leovinus daraus einen seiner zauberhaften Übergänge zum Thema „Schwarz-Weiß“ gebaut, aber den habe ich vergessen.

Themenbeauftragter war der Martin mit den blauen Haaren. Er bezog das Thema auf das Holsteinische Rind. Hauptprotagonistinnen seiner kurzen Geschichten waren Elvira und Resi, wobei Elvira die Perspektivträgerin abgab, die sich an Resi und ihrer längeren Lebenserfahrung abarbeitete, während Stare ihr die Maden aus dem Fell zogen. Dabei philosophierte sie über einen Hausbau, der ihnen die Weiden beschnitt, aber, so dachte Elvira, den Häusern gehört die Zukunft und vielleicht hätte sie, wenn sie das Haus bezögen, auch endlich ein Klo. Als sie dann aber zur Wohnungsbesichtigung in das Haus getrieben wurden, sah sie kein Klo, und außerdem fühlte sie sich von lauter Gittern bedrängt und beschloss, wenn sie rauskäme, würde sie sich be…/

Tja, da passierte dann wohl das, was alle im Saal schon geahnt hatten. In der Diskussion ließ jemand aus dem Publikum den Begriff Ockhams Rasiermesser fallen, der kürzeste Weg ist immer der beste. Eben weil die Geschichte sehr kurz und knapp gehalten die Zeit gar nicht ausschöpfte, die dem Autor zur Verfügung gestanden hätte. Der Autor selbst erläuterte sein Prinzip, keine Schwafeleien zuzulassen bzw. jegliche Anflüge aufs Schärfste zu bekämpfen. Und er lieferte auch meinen Lieblingssatz des Abends: ich hatte wirklich keinen Schnall, womit er wohl zur Kenntnis geben wollte, dass er eigentlich nicht gewusst habe, was er mit dem Thema Schwarz-Weiß anfangen solle.

Ich hatte für den Abend den Stammautoren-Joker gezogen und durfte als nächster lesen: „Welati holt Sawom vom Flughafen ab“. Es ist die Vorstellung einiger Figuren, die mehr oder weniger freiwillig zusammenleben: Welati als erzählende Stimme ist der eher milde Hausmann, Sawom der grummelige Globetrotter und Puvester der geflohene Ukrainer, den sie bei sich aufgenommen haben. Sie werden sich, so mein Fleiß und meine Lust hinreichende Blasen treiben, im Berliner Alltag miteinander zurechtfinden müssen.

Eben, da ich dies schreibe, glaube ich, dass das Figurenensemble noch eine Frau vertragen könnte, die ich Paaggrü nennen könnte. Die wird nicht bei ihnen wohnen, nur auf derselben Etage. Ich war teilweise ganz zufrieden, da es einige offenbar amüsante Momente gab, wie ich der hier und da aufflammenden Heiterkeit im Publikum entnahm.

Aus dem Lostopf sprang der Wolfgang Eubel mit einem Rumpelstilzchen.

Während seines Vortrages musste ich mehrmals an Eugen Drewermann und seine tiefenpsychologisch erläuterten Märchen denken. Wo Drewermann mit viel Ruhe in die Figuren und ihre Konstellationen einsteigt, springt Wolfgang wie seine „Hauptfigur“ mit schnellem Tempo von Assoziation zu Assoziation und stellt sie in verschiedenste Zusammenhänge. So wie die böse Hexe das personifizierte weibliche Böse wäre, sei Rumpelstilzchen das personifizierte männliche Böse. Das Märchen metaphorisch sind, verstehe jedes Kind intuitiv. Er stellte da einen Gegensatz zu heute her, den ich nicht nachvollziehen kann, weil ich denke, dass auch heute jedes Kind versteht, dass man die modernen Märchen wie Spiderman oder Batman oder Iron-Man nur metaphorisch verstehen kann. Wolfgang erläuterte uns noch das Rumpelstilzchen-Syndrom, das, wenn ich es richtig verstanden habe, darin besteht, dass, was man benennt, verschwindet. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, heißt das Sprichwort dazu. Puff – weg. In mir entstehen Allmachtsphantasien, wie ich hier auf dem Balkon sitze, auf die Straße schaue … ein Auto fährt vorbei … ja – und schon ist es weg. Wahrscheinlich in die Florastraße eingebogen.

Wolfgang folgte auf Wolfgang, Stakkato after Stakkato sage ich mal, nämlich Wolfgang Weber.

Er hatte einen Umschlag dabei, aus dem er Zettel zog – und so die Reihenfolge des Textes loste. Die Methode versinnbildlicht ein Dilemma. Für einen Dadaisten ist Wolfgang noch zu strukturiert. Er fragte, was er wohl übermorgen träumen würde – Space is the place. Er will übermorgen vom Weltall träumen und mit Stanislaw Lem, Douglas Adams durchs Universum fliegen. Ich verstehe die Sehnsucht nicht so recht. Denn wo könnte man am Ende einsamer sein? Deshalb war ich froh, dass er neulich von falschen Bahnen geträumt hat. Es kam das Motiv vor, dass jemand am Bahnhof ausgerufen wird, weil jemand anderes sich verspätete. Zug 1 verspätet, Zug 2 weg. Ausgerufen, wann ich ankomme. Das traf so ein. Ich auch. Und im Herzogtum Lauenburg gibt es Orte ohne Halt und Halte ohne Grund. Das hat mir als Motiv sehr gut gefallen.

Nach der Pause wurde die Themenbeauftragte für den Monat Juli gekürt, nämlich Ute Danielzick – und ihr Thema ist „Oma im Wind“. Das ist ein Thema, auf das ich schon lange gewartet habe.

Leovinus verkündete außerdem, dass er rübermachen wird. Was ein Unterschied zu früher ist, als man das eher heimlich versuchte. Er freue sich auf seine Zeit im Auffanglager und das erste Mal Kaffee und Kuchen. Warum gehen bloß immer die Besten? Ich würde mir das nicht zutrauen. Düsseldorf. Ich glaube, ich würde mich noch nicht mal nach Oschersleben wagen.

Leovinus warb dann noch für unser Special „Das Leben und seine Kuriositäten“ am 15. Juni 2023 ebenfalls im Zimmer 16. Da wird unter der Leitung von Frau zu Kappenstein das Kernteam der Lesebühne und auch Ute Danielzick lesen und wer möchte, ist herzlich eingeladen zu lauschen.

Er zog live Sandra Reinhardt aus dem Hut, einfach so, eine Debütantin auf unserer Lesebühne, die drei Gedichte zum Besten gab.

Das erste hieß „Give peace a chance“. Sie erwähnte (als Vorbild?) einen Walter Bobaschnick, der sich, gegoogelt, Walter Pobaschnig schreibt. Und auf einer Seite (www.literaturoutdoors.com) habe ich gefunden, dass mehrere Autor*inn*en Akrostichons mit den Anfangsbuchstaben zu Give Peace a Chance geschrieben haben – und ich vermute, das hat Sandra auch getan, ich war bloß zu doof, es zu erkennen. Ihr zweites Gedicht hieß „Odem“, da ging es darum, dass wir in Liebe gekommen sind – und also in Liebe wieder gehen sollten – und folgerichtig hieß das dritte Gedicht „Zerfall“ – das Leben, hieß es da, kenne kein Tabu. In der Diskussion wurde die These aufgestellt, dass es sich eher um weiblich(gelesen)e Gedichte handele, und die Jungs jetzt ECHT sprachlos wären. Es ist wohl auch besser, wenn ich das jetzt bleibe – auch wenn ich mich nicht mehr als Junge lese.

Es las Michael Wiedorn „Abschied vom Sommer“.

Er eröffnete in meinem Gefühl die Stephen-King-Abteilung des Abends. Es wurde düster, regnete schon seit Tagen, Schädel schlug gegen Stein, Blut, Raben kreischten, ein erstickend dunkles Haus, nie ein Ausgang – er war der Welt abhandengekommen, in der Außenwelt vollkommen ausgelöscht, schwarze Wälder, weit und breit kein weiteres Haus – und da ist plötzlich ein junger Mann, der zögert einzutreten – und irgendwo da taucht ein Ich-Erzähler auf, der hochgeht, für den es, wenn ich es recht verstand, keinen Sommer mehr geben wird. Jemanden aus dem Publikum hatte der Text sprachlich an Trakl erinnert. Ob der Michael also ein Traklist wäre. Ich kann das nicht beurteilen. Aber der Text war voller Assoziationen, Sprachbildern, die eine düster-vergebliche Stimmung in mir erzeugten, aber auch so eine Hoffnung, dass es einen Ort geben muss, der nur mir und vielleicht noch meinen Dämonen gehört. In der Diskussion wurde noch die Frage verhandelt, ob man etwas vollkommen auslöschen könne. Ich finde ja, denn von etwas Ausgelöschtem können immer noch Reste zeugen, von etwas vollkommen Ausgelöschtem nicht.

Den Abend beschloss Matthias Rische. „Geschichtenstunden“ hatte er seinen Text genannt – und der Ansatz ist nach meinem Dafürhalten eine sehr schöne Idee – es war nur vermessen, die in einer Viertelstunde ausbreiten zu wollen.

Ein Jugendlicher entdeckt, dass seine Eltern nur seine Pflegeeltern sind, was in ihm das Gefühl erweckt, dass sein ganzes Leben bisher eine Lüge war. An der Stelle ging es los, dass ich dachte: warum das so ist, möchte ich miterleben, weil der bloße Sachverhalt ja das Leben nicht zu einer Lüge macht.  Und dann hatte dieser Mensch die Fähigkeit, Geschichten zu erfinden, die wahr werden. Endlich machte der Erzählwahnsinn Sinn. Es folgten diverse Todesfälle, Morde also de facto, die aber als solche nicht erkannt werden konnten. Grusel, Horror, ja, aber dafür müsstest Du, lieber Matthias, daraus schon einen Roman machen, der mich aus meinem Alltag in die düsteren Welten der nicht zu greifenden Gefahren zerrt, wo mir die Nackenhaare in die Senkrechte gehen. Mir geht das nah, weil ich sowas auch gerne schreiben können würde.

Und das war sie, die 180. Lesebühne SoNochNie!

Euch allen einen schönen Weg in den Sommer. Mir geht das Lied meiner damaligen bulgarischen Lieblingsband durch den Kopf:

Дъжд няма да вали – Regen wird nicht fallen. Молитва за дъжд heißt das Lied – Gebet für Regen. Passt zur Stimmung besonders des vorletzten Textes – nur dass nicht zu viel Regen fällt, sondern gar keiner. Da heißt es frei übersetzt:

Nicht dass der Himmel in mir leer ist, nicht dass die Flüsse in mir tot sind, nicht dass die Städte in mir taub sind und sich mir die Straßen wie kahle Hügel aus ihnen entgegendrehen. Aber weil ich die Dürre nicht kommen sah, weil ich Steine in alle Quellen geworfen habe, mich vergeudet, billig verkauft habe, ohne an das Morgen zu denken. Wegen eines Löffelchens Wasser schmerzt mir das Herz, aber es gibt keinen Regen, und auch keine Blume der Liebe mehr.

Mit diesen aufmunternden Worten aus den frühen Achtzigern verabschiede ich mich.

Euer


Der Druck auf die Blase steigt

Die 178. Lesebühne SoNochNie! eröffnete Leovinus mit dem Verweis auf den 72. Jahrestag der Sprengung der Krolloper. Für mich ist diese Oper nur verbunden mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis, aber es sollen dort auch tatsächlich Opern und ähnliche Unterhaltungsshows aufgeführt worden sein.

Meine Wenigkeit (Frank Georg Schlosser) las dann eine Geschichte zum Thema „Lippenstift“. Sie spielte in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der in Berlin der Autoverkehr verboten ist, und man sich zu Fuß, zu Pferd oder mit einem Paddelboot fortbewegt. Die Geschichte kreiste um den Einsatz von Beamten, die letzten Spuren althergebrachter binärer Lebensformen nachforschen, dafür Durchsuchungen vornehmen und Lippenstift benutzen, einmal um ihren Platz in der Hierarchie darzustellen, und zum zweiten, um potenzielle Verdächtige mit einem Kuss zu markieren. Ist es der Kuss des Todes oder die Markierung eines Aussätzigen? Es muss sich dafür um etwas absolut nicht Abwaschbares handeln oder um Nanopartikelchen, die immer nachweisbar bleiben.

Danach las Christian Löwe Gedichte, in denen zum zweiten Mal an diesem Abend das Wort „Büttel“ benutzt wurde. Kann es sein, dass da etwas in der Luft liegt, eine diffuse Furcht vielleicht vor der Rückkehr der Büttel und der Denunzianten? Lass ihn rufen, er sucht nur eine Seele. Sein drittes Gedicht war das berührendste, da ging es um eine 85-jährige Mutter: „Du bist nicht mehr die, die die Welt bewegt.“ (Gibt es sonst eine Sprache, in der das gleiche Wort mit verschiedenen Bedeutungen dreimal hintereinandergeschrieben noch einen Sinn ergibt?) „Was du redest, stand in der Zeitung oder ist lange her …“

Wolfgang Weber hatte seine Zettel diesmal einzeln in Frischhaltefolien verpackt, die an einer Schnur aufgereiht vom Tisch hingen, die Vergänglichkeit selbst eingepackten Papieres symbolisierend. Seine Message? Herbst wurde Frühling, glaube ich. Autumn leaves – Herbst verlässt uns. Aus dieser inhaltlichen Ecke käme dieses Lied. Er verblüffte uns mit dem Reim: Slipping and sliding, peeping and hiding. Ein Blatt fiel aus seiner Hülle – was sagt uns das über den Klimawandel? Es stellte sich als Herausforderung dar, es von dort (?) zu lesen, hoch vom Papy-Ross.

Martin Haase-Thomas las etwas aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, über ein „Freulein (sic!) vom Amt“, Dorothea, 25 Jahre, die noch in der Ausbildungszeit war und 100 Mark (pro Monat?) nach zwei Monaten bekommen würde. Sie ging für ihre Mittagspause an die frische Luft, nur um dort Zeugin eines Dramas zu werden. Einem Wagen brach die Deichsel, das Pferd war gefangen und verletzt, Blut floss aus dem Muskel, es zitterte, brach zusammen und starb. Dorothea hatte Blickkontakt zu dem Mann, der das Pferd noch in seinem Leid malträtierte. Das Pferd war schuld, es hatte die Strafe verdient. Es war ein sehr intensiver, gut geschriebener Text, der mich in seinen Bann zog.

Martin gewann auch das Losverfahren für den Themenbeauftragten des Monats Mai. Dann wird er uns mit einer Geschichte zum Thema „Schwarz-Weiß“ überraschen. Aus irgendeinem Grund habe ich „Schweineschmalz“ in Klammern dahinter geschrieben. Habe vergessen, warum. Kleine Interpretationshilfe vielleicht?

Wolfgang Eubel trug Denksplitter vor, Gedanken, die es nicht in ein größeres Werk geschafft haben. Es kamen zu Gehör Gedanke 1 (Gut ist es, wenn ein großer Mensch seine Größe nicht versteckt.), Gedanke 2 (Sci-Fi-Autoren sind phantasielos.), wozu es Widerspruch gab, Gedanke 36 (da ging es um die erotische Orientierung von Nietzsche, Stirner und noch jemandem, aber das habe ich nicht sehr gut notiert – und da es jetzt schon anderthalb Wochen her ist …) und Gedanke 37 (Frau Wortmann – der Wille – Wille ist Keim, Zutrauen ist Blüte und Erfolg ist Frucht). Das fand ich gut. Ich war so gebannt, dass ich völlig vergaß, ein Foto zu schießen, daher hier ein älteres:

Vera Fang las „Heißer Sand“. Es war ein berührender Text, der seinen Gegenstand poetisch verbrämte, denn es ging um etwas unaussprechbar Grausames. So war mein Erleben. Ein Antidepressivum vor dem Zubettgehen und eine Melodie von 1962 im Einschlafen „Heißer Sand“. Es geht um einen Eifersuchtsmord in diesem Lied. Und im Text um ein Mädchen namens Lina. Die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war. … Wann war mein Leben einmal schön, fragte die Autorin. Wehmut (und ein Zittern in der Stimme) umhüllte sie. „Langsam verblassen die Blutergüsse, nur die Wellen singen leise.“ „Den Namen Lina habe ich mit dem kalten Ring ins kalte Grab zum kalten Mann gelegt.“ Der Text hat mich sehr berührt, weil mich aus ihm eine Traurigkeit anwehte und eine Fassungslosigkeit über etwas Grausames, Geschehenes, das selbst im kalten Grab nicht vergangen sein wird.

Matthias Rische las aus dem Leben eines Nerds vom zweiten Hinterhof, der dafür, dass er ein Nerd ist, sehr gut beobachtet und alle Nachbarn und ihre Marotten kennt. Da kenn ich andere Nerds. 😉 44 Mietparteien, „ich“ könnte in die Fenster der Nachbarn schauen, würde ich meine Fenster putzen. Der Hof ist ein Parkplatz, ist so geworden trotz anderer Absicht. Es geht um die Not einer Pfandflaschensammlerin, es gab Zeiten, da waren sie (die Flaschen) mehr wert als menschliche Zuwendung. Es ging auch noch um einen Messi, der Kuchen backte, den der Ich-Erzähler aß, da befiel mich schon beim Zuhören der Ekel. Soll er etwas trinken? Wenn ich etwas trinke, muss ich schneller pissen. Das war für mich so der Widerspruch im Text: ein nach eigenem Bekunden desinteressierter Typ, der über nichts genauer Bescheid weiß als über das, was um ihn herum passiert. In der Diskussion fiel der Satz: Man badet nicht im Schmerz, sondern sieht den Dingen nüchtern ins Auge.

Der Druck auf die Blase nahm zu.

Verschraubt und zugenäht – oder – Blutiges Jubiläum

Die Einleitung unseres langjährigen Moderators Leovinus

kam diesmal nicht mit einem entlegenen Jahrestag daher, der uns in die Zeit von Latrinen- und anderen Stürzen (Niagarafälle) führte, sondern feierte den zehnten Jahrestag des ersten Themenbeauftragten unserer Lesebühne.

Die offizielle Rede dazu kann man hier nachlesen, und die ihr zugrundeliegende Datenerfassung, die ein gestörter Excel-Liebhaber erstellt hat, hier. Wer also selbst mal Themenbeauftragte(r) war, kann in dieser Tabelle nachforschen, wann dieses einschneidende Event stattfand und auch zu welchem Thema.

Auch an diesem Tag gab es eine Themenbeauftragte, Vera Fang nämlich, die zur Zeit in rasendem Tempo die Frauenquote nach oben treibt. Wenn sie sich ab heute ohne Unterbrechung fünfzig Mal hintereinander als Themenbeauftragte durchsetzen würde, hätten wir (in ca. vier Jahren) Geschlechterparität hergestellt.

Ihr Thema lautete „Hasenfuß“, und dieses Thema schlich sich in ihren Text über eine Hasenpfote, die von einem Fangeisen zu blutigem Matsch zerquetscht wurde, was einen Abend der Folter und der Blutbäder einleitete, wie wir ihn im Zimmer 16 noch nicht erlebt haben. Veras Protagonistin war vor dem Fernseher eingenickt, und als sie erwachte, fand sie sich als Hoppelhase in einer Tierdoku wieder. Kurz bevor das Häschen in die Falle tappte, legte sich zwar Gott sei Dank die auf dem Sofa zurückgeblieben Katze auf die Fernbedienung, und auf diese Art und Weise geriet die Protagonistin über verschiedene Umwege auch noch an einen gut durchtrainierten Asiaten, wenn ich mich recht entsinne, was immerhin zu einem schönen erotischen Intermezzo führte (nur Fummeln, denn Hardcore ist nicht im Fernsehen), bis sie schließlich von der „falschen“ Seite des Bildschirmes wieder auf die „richtige“ geriet. Vera hat in ihrem Text „Pleasantville“ erwähnt („das ist doch hier nicht Pleasantville!“), einen netten Film von 1998, in dem das Thema des in den Fernseher gesaugt Werdens schon mal auf sehr nette Weise dargestellt wurde.

Aber auch Veras Geschichte, die, nebenbei erwähnt, mit viel Verve vorgetragen war, gefiel allen sehr, was man dem langanhaltenden Beifalle entnehmen konnte.

Sie bekam die Jubiläumsurkunde und ein Exemplar unserer von Michael Wäser liebevoll gestalteten SoNochNie-Jubiläums-Notizheftchen, das, vollgeschrieben, genau eine fünfzehn Minuten dauernde Kurzgeschichte ergibt. EVP und UVP: 1,50 €.

Als zweiten Lesenden zog Leovinus Wolfgang Eubel aus dem Lostopf. Wolfgang las einen Text zu einem philosophischen Thema oder richtiger: einen Text, den er für die MoMo-Berlin-Preisfrage 2023 geschrieben hat, nämlich „Was bedeutet es, ein Tier zu sein?“ Den Link gibt es hier.

Jeder kann sich an der Beantwortung dieser Preisfrage noch beteiligen. Einsendeschluss ist der 10. Mai. Dann legte Wolfgang los mit einer alten Anekdote übers Piepsen, wo ein Erdferkel piepst „Fressfeinde im Anmarsch“, nur um – als sich alle in Sicherheit gebracht haben – das Futter ganz allein zu verspeisen. Piepsen sagte Wolfgang, ist durch keine Bedeutung kontaminiert, was ich eine sehr schöne Anmerkung finde. Und Erdferkel piepsen nicht, um Gedanken auszudrücken, sondern um Nestwärme herzustellen.

Allerdings entfernte sich Wolfgang kurz danach weit von der Preisfrage und piepste sich andeutungsreich durch die halbe Menschheitsgeschichte. Kühe spielten unterwegs Skat (allerdings nur, wenn sie niemand beobachtet), Erdferkel gründeten Death-Metal-Clubs. Nun sind wir von Wolfgang solche Parforce-Ritte gewöhnt. Ich muss aber zugeben, dass mich sein Assoziationsfeuerwerk diesmal oft überfordert hat. Das mag daran liegen, dass viele Silben durch pieps ersetzt wurden. Die Preisfrage hat er, finde ich, nur sehr indirekt gestreift.

Aber das darf uns nicht bekümmern, schließlich sind wir nicht die Jury.

Der nächste Lesende war Arved Wolff. Arved war nun wieder der wandelnde Fokus. In zwei Gedichten fokussierte er sich einmal auf den Vergleich eines Nagelbrettes mit der Schmallippigkeit seines letzten Dates. Er suchte nach einer „Entsprechung der letzten Begegnung mit dir“.

Zum zweiten ging es um die Verschraubtheit des gemeinen Föns im gemeinen Großstadthotel. Er stellte die Frage, ob es erst das Bett und dann die Wirklichkeit sein müsste. „Nicht mehr allein sein, so heißt der Traum, auch er ist verschraubt, für alle gleich.“ Arveds Gedichte sind für mich wie schwebende Blüten, die einen stechen, wenn man nach ihnen greift. Und so wurde in der lebhaften Diskussion auch das Nagelbrett mit zweitausend stählernen Spitzen als sehr treffendes Bild empfunden. Und die Frage stand im Raum: wie viele Spitzen braucht es, bis es nicht mehr so schlimm wehtut.

Dann durfte ich, Frank Georg Schlosser, lesen. Meine Geschichte hieß „Wladimirs Augen“, es ging um Schönheit, ob man sie allein oder nur in Verbindung mit einem Träger verkaufen kann, und es ging um die Augen, die sie sehen.

Was passiert mit der Schönheit, wenn man erblindet, oder die Augen im Kochtopf landen. Die Geschichte ist noch im Werden, aber sie hat schon mal viel Zustimmung erfahren und das Publikum erheitert, was mich sehr freute. Sie war übrigens Ausfluss meines Ringens mit dem Thema „Lippenstift“, das ich als Themenbeauftragter für den Monat März zu bearbeiten habe.

Dann gab es die Pause und den Werbeblock. Und als wir uns wieder zusammenfanden, hat Ute Danielzick uns aus Anlass des Jubiläums am Klavier mit der von ihr verfassten Hymne „So Noch Nie!“ erfreut, denn wir sind weltweit die einzige Lesebühne mit einer Hymne.

Vielen Dank dafür. Man beachte Utes Hund hinter dem Stuhl, wie er ihn bewacht für den nächsten Lesenden.

Dann gab es die Wahl des Themenbeauftragten für den Monat April. Als Kandidaten warfen ihren Hut in den Ring: Vera Fang und Matthias Rische. In diesem seltenen Fall entscheidet das unerbittliche Los und die unparteiische Losfee, diesmal zugunsten von Vera Fang, die gleich das erste gezogene Thema „Ladyboy“ akzeptierte. Wir sind gespannt, was Vera aus diesem sehr zeitgemäßen Thema macht.

Zuletzt las Matthias Rische, der ebenfalls Werbung machte für das Kamingeplänkel am kommenden Samstag, d. 4.3.2023, den Link dazu gibt es hier.

Seine Geschichte rundete den blutigen Abend (nach zerquetschten Hasenpfoten, quälenden Nagelbrettern und zerkochten Augäpfeln) ab.

„Ätzende Familie“ hieß sein Text mit dem zauberhaften Satz: „Ich werde lächeln, wenn du gehst, wenn du kurz vorm Sterben stehst“. Onkel Theo zog beim Familientreffen seine große Nummer ab, mit dem Spezialmesser Brot schneiden, wie es früher üblich war, den Laib vor dem Körper haltend auf die Brust zu säbeln, eine Scheibe nicht von der anderen zu unterscheiden, so kunstvoll konnte der Onkel Theo das. Irgendwie muss er aber wohl mit dem Messer noch nicht so viel Erfahrung gehabt haben oder betrunken gewesen sein, jedenfalls zog er das Messer einmal zu oft durch und schnitt sich in die Brust. Ich bin ja gegen allzu scharfe Messer – man merkt die Verletzung zu spät. Aber dass der Onkel Theo deshalb verbluten musste, auch weil Tante Haickvajessn die Telefonnummer der Feuerwehr nicht fand, war schon harter Tobak. Jemand erbarmte sich seiner und warf ihn vom Balkon, wo er allerdings auf dem Feuerwehrauto landete.

Und das war sie, die 177. Lesebühne. Hat viel Spaß gemacht. Bis zum nächsten Mal, wo ich dann als Themenbeauftragter einen leicht dystopischen Blick in Berlins Zukunft wage. Euer

Glück ist ein kurzes Wort

Die 175. Lesebühne SoNochNie! stand unter der Fuchtel eines Gepäckträgers, denn so lautete das Thema des Themenbeauftragten. Matthias Rische.

Doch zuvor erinnerte unsere bewährter Moderator Leovinus an den 103. Geburtstag des Großen Schauspielhauses. Gemeint ist damit der jedem Ossi wohl vertraute Friedrichstadtpalast, der alte wohlgemerkt – und wer sich dazu belesen will, der kann das bei Wikipedia tun.

Matthias übersetzte das Wort Gepäckträger in eine Geschichte von einer Mutter, die einen Sohn geboren hat, der in einer Vergewaltigung gezeugt worden ist, und den sie erwischt, wie er selbst eine Frau vergewaltigt, als er alt genug dazu ist. Das ist mir sehr nahegegangen, weil er die inneren Kämpfe der Mutter beschreibt, ob sie ihren eigenen Sohn töten soll, damit der nicht genau so ein böser Mensch wird wie sein Vater. Es beginnt mit Gedanken, dass sie ihn hätte abtreiben sollen, geht über die ersten Warnlichter, wie er tote Ratten sezierte, um zu sehen, ob sie noch etwas anderes fressen als Müll, bis hin zum Gedanken, dass eine Mutter ihr Kind schützen muss vor allem, was ihm Böses widerfahren, aber auch vor allem, was es Böses anrichten kann. Kinder dürfen nicht zum Träger des Gepäcks ihrer Eltern werden.

Die zweite Lesende war Gudrun Sonnenberg, ihre Geschichte hieß „Der Klecks“. Sie handelte von einer Frau, die an ihrem letzten Arbeitstag all ihre Dateien und die Bilder für den jährlichen Kalender ordentlich übergeben will, nur um festzustellen, dass sie die Einzige war, die sich dafür interessiert hat, was dazu führt, dass sie am Ende alle Dateien löscht, wahrhaft loslässt. Verpackt ist das Ganze in einen Rahmen um einen kleinen Rasierschaumklecks hinter dem Ohr eines Mannes am Backstand, den sich die Frau nicht traute anzusprechen, als sie für knapp 50 Euro Petit Four für die Kollegen zum Abschied kaufte. Sie dachte darüber nach, eine Rasierschaumprüfung vorzunehmen und dafür die Personalien des Mannes festzustellen, ließ es aber, wenn ich mich recht entsinne, bleiben. Eine leichte, halb belustigte, aber auch ein wenig traurige Geschichte über das sich etwas (nicht) Trauen.

Als Dritter las Wolfgang Weber aus einer kleinen Anthologie „Zwergenland“ den Text „DamDam“. Wie immer ist es schwer, Wolfgangs Texte in einem Satz zusammenzufassen, aber im konkreten Fall stand Madurodam im Mittelpunkt, ein Miniaturpark in oder bei Den Haag. Dam, Dam, Edam, Madurodam, dem Andenken von Maduro gewidmet, der 1945 in Dachau starb. Nimm den goldenen Ring von mir, dam, dam, einen der dich drinnen lässt, im Zwergenland. In der Diskussion wurde gealbert, dass Wolfgang der Erfinder des Damdamismus sein könne. Der Text wurde als ein politischer Text gesehen, mir ging es auch so, spätestens seit dem Wort Dachau, aber Wolfgang meinte, das wäre nicht seine Absicht gewesen. Er könne nichts dafür, was unsereiner in seinen Text gerne hineininterpretieren möchte.

Dann las Arved Wolff einen Text über einen jungen Mann, der mit dem Motorrad auf der Autobahn nach Berlin kurz nach der Wende eine junge Frau aufliest, die wegen eines Unfalls im Regen auf den Abschleppwagen wartet. Er genießt selbst den Druck ihres Helmes an seiner Schulter. Er beschreibt fast jede Bodenwelle, als befände sich der Mann in einem Stadium überdrehter Aufmerksamkeit. Er ermahnt sich nicht durchzudrehen. Er entwickelt trotz Kälte und Nässe und schmerzender Handgelenke ein Gefühl von Nähe. Ist Glück eine Überraschung, fragt er sich. War das anders als im Westen? Glück ist auf jeden Fall, so sinniert er, Einfachheit. Aber an der nächsten Tankstelle, wo eine Imbissbude Suppe bot, fand sich der vermisste Abschleppwagen, kaum, dass es eine Verabschiedung gab, war die Frau, von der er weder Namen noch Telefonnummer wusste, wieder verschwunden. Glück, dachte er, ist ein kurzes Wort. Und wieviel davon könnte man schon aushalten?

Dann gab es die Pause und die Wahl des Themenbeauftragten für den Monat Januar, der ich sein werde. Als erstes zog ich das Thema „Glück“.  Da ich aber schon die „Glücksskala“ geschrieben habe, eine sehr gelungene Geschichte, die ich hier noch einmal verlinke, griff ich ein zweites Mal in den Lostopf und muss nun „Lippenstift“ nehmen, ein Thema, für das ich Fachmann bin, wie man diesem Bild einer kulturellen Aneignung entnehmen kann.

Und zu allem Überfluss wurde ich gleich danach auch als nächster Lesender gezogen. Ich las „Novembernebel“. Bernd, ein Kriminalkommissar kurz vor dem Ruhestand, besucht Nestor, den Sohn eines Freundes, um ihn über seine letzte Sichtung von Sven zu befragen, der am Tag davor tot aufgefunden worden war. Nestor bleibt einsilbig. Aber Bernd überrascht ihn, wie er noch einmal an den Ort des Geschehens zurückgeht (der Fehler eines jeden mordenden Anfängers). Und aus Nestor bricht es heraus, dass Sven ihn und ihre Freundschaft verraten habe, weil er ein Asket und ein Erweckungsprophet habe werden müssen, mit dem man nicht mehr Age of Empire spielen könne. Es sind Menschen schon wegen geringerer Anlässe ums Leben gebracht worden, finde ich.

Die nächste Lesende war Petra Lohan mit der Geschichte „Mopsland“. George hat eine Affäre mit Marina, die er nie wiedersehen wird, aber sie schickt ihm noch eine Karte, auf der ein Mops abgebildet ist, dessen Blick ihn in die Widerstandslosigkeit treibt. Das Bild lässt ihn nicht los, und zwanzig Jahre später sucht er diesen Ort erneut auf, und zu seiner Überraschung haben alle Menschen dort Möpse. Auch ihn belagert ein Mops, und eine Frau namens Lydia belehrt ihn, dass er sich nicht wehren könne, wenn der Mops sich den Menschen ausgesucht habe. Am Ende ist Lydia die Tochter, die damals aus seiner Affäre mit Marina hervorgegangen ist. Es wurde dann sehr verworren für mich, weil es eine unterirdische Mopsfabrik gab, Möpse die Menschen zu Eltern machten, und überall und immerzu konnte man das Röcheln der Möpse hören. Es war, als röchele der ganze Ort. Was braucht man einen Flugplatz, wenn man eine unterirdische Mopsfabrik haben kann.

Der letzte Lesende war Michael Wiedorn, der eine David-Lynch-hafte bilderreiche Parabel über eine Heimkehr las. Ein Mann sitzt in einer fremden Stadt in einem Hotelzimmer, aus dem er das Alteisenlager sehen kann. Im nächsten Moment fährt eine andere Person im fiebrigen Rhythmus eines Zuges, während draußen schwarz die nächtliche Landschaft an ihm vorbeizieht. Im Bus ist er der einzige Fahrgast, und der Fahrer fragte ihn, was er sich in seinem Alter so spät nachts noch draußen herumtreibe. Es geht am Postamt, am Rathaus vorbei, schließlich am Alteisenlager, wo der aufmerksame Zuhörer den sich schließenden Kreis spürt. Der Mann im Hotel legt sich hin (oder legte der neu angekommen Jüngling ihn hin? … bin mir nicht mehr sicher), faltete (ihm?) die Hände auf dem Bauch und schloss (ihm?) die Augen. Ging mir wie bei David Lynch – ganz verstanden habe ich es nicht, und trotzdem ließ es mich berührt zurück.

Und das war sie, die 175. Lesebühne SoNochNie! – das nächste mal sehen wir alle in Berlin gebliebenen Literaturliebhaber am zweiten Feiertag. Bis dahin … bleibt respektvoll – besonders an der Keksdose, sagt Euer

Arrogant wie immer, die 174. Lesebühne SoNochNie!

Nach einer Regelerläuterung begann Leovinus den Abend mit dem 184. Geburtstag von Annie Taylor, die am 24. Oktober 1901 als angeblich erster Mensch sich in einem Fass die Niagarafälle hinunterfallen lassen hat und das auch überlebte. In einem Loriotfilm soll der Satz gesprochen worden sein: „Ich würde mich mit Ihnen in einer Tonne die Niagarafälle hinuntertreiben lassen.“

Nun, so einen Stunt musste die Themenbeauftragte des Abends, Petra Klingel, nicht leisten. Sie musste nur den Mut aufbringen, auf die Bühne zu kommen und ihre Geschichte vorzulesen. Sie hieß wie das Thema des Abends „Relation“.

Im Grunde erzählte sie vom Glück, eine in der Kindheit eingeprägte, festgefügte Meinung oder Haltung im Leben wieder loslassen zu können. Die Hauptheldin stammte vom Dorf in Thüringen, wo die Regel galt: Tiere, egal ob Katzen, Hunde oder Pferde, kamen nicht ins Haus.

Dieses Kindheitsmuster wurde zuerst von Freundin Heidi, bei der sie auf einem Feldbett im Flur schlief, auf die Probe gestellt, die eine Katze namens Minka hatte, die bei Heidi im Bett(!) schlief. Asozial.

Es blieb ihrem späteren Partner, Inhaber eines Uhrenladens, der unbedingt einen Dackel wollte, vorbehalten, diese Ansicht zu zerstören. Der frische Dackel fiepte nämlich nächtens, und weil der Mann das schnarchend nicht hörte, musste sie eine Lösung finden, und das Einzige, was am Ende funktionierte, war, den Dackel zu sich ins Bett zu holen. Erst sollte es eine Ausnahme sein, aber das war schnell vorbei. Katharsis.

Die Diskussion erbrachte, dass für eine spannende Geschichte ein bisschen mehr Widerstand gegen den Dackel gut gewesen wäre, aber es heißt ja nicht umsonst Hundeblick, oder? Welcher Widerstand sollte da glaubhaft rüberkommen?

Leos Feuerkelch spuckte als zweiten Teilnehmer unseres multimagischen Literaturwettstreits Michael Wiedorn aus, der den Text „Wer kann mich ergreifen?“ las. Es ging um einen Jungen, der sich ohne Spiegel sehen will, ums Richtung wechseln bei Höchstgeschwindigkeit, um Bruder und Schwester, die jeweils zwei Körper haben, und um Schottland und Budapest, weil Schotten von Ungarn kaum zu unterscheiden sind. Beim Bruder tauchte die Frage auf, ob die beiden Körper überhaupt voneinander wussten.

In der Diskussion enthüllte der Autor, dass es sich um einen uralten Traumtext gehandelt habe. Mancher hätte sich etwas mehr literarische bzw. dramaturgische Gestaltung gewünscht, aber wir sind hier nicht bei Wünsch-Dir-was. Der Autor selbst fand übrigens, dass es ein kalter Text sei. Und W.E. warf ein, dass er auch Courths-Mahler gelesen hätte und fand den Wunsch nach mehr literarischer Gestaltung, um es mal höflich zu sagen, arrogant. Da ich den Wunsch geäußert hatte, werde ich in mich gehen und mich meinen arroganten Anteilen stellen, sie umarmen und als zu mir gehörig inkludieren, um nicht den unhöflichen Anmerkungen späterhin schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber Courths-Mahler werde ich nicht lesen[1].

Mit der launigen schwer zu kapierenden anderthalbfachen Verneinung:

Ein Schotte ist kein Ungar,

das ist nicht mehr als unwahr,

leitete Leovinus zum nächsten Lesenden über.

Das war Michael Wäser mit dem Text „Eines Abends“. Georg, Klaus, Arthur und Jens, vier in die Jahre gekommene Literaturinteressierte treffen sich regelmäßig, um über Bücher, die sie gelesen haben, zu diskutieren.

Zunächst müssen jedoch die Schwierigkeiten des Treppensteigens in die vierte, fünfte oder sechste Etage überwunden werden, man wusste es nicht genau, gefühlt endlos, zumindest für Arthur, der schnaufend den noch deutlich fitteren Jens beneidete, der jedoch höflich sein Tempo anpasste. Es ging um Hautuntersuchungen, außerplanmäßige Op’s. Des Gastgebers Frau Rosa war auch dabei, die ab und an aus ihrer Dunkelkammer auftauchte. Man lachte und machte Witze übers Gendern, von denen einer so banal war, dass sie sich schier darüber totlachen wollten. Einer hat es geschafft. Sie lachen, sie husten, und dann bricht Georg zusammen, rutscht vom Stuhl. Es bleibt Rosa vorbehalten, das Ende seiner Lebensfunktionen festzustellen.

Klaus tröstet Jens nach einer Weile: „Es lag nicht an deinem Witz.“

Sie sitzen ratlos, wiederholen ungläubig den Witz, lachen wieder, sitzen still. Eine zauberhafte Geschichte darüber, dass man sein Leben möglichst im Kreis von Freunden aushauchen sollte. Denn das ist mein Gefühl, auch jetzt, da ich darüber schreibe: so will ich mal sterben. Beim Lachen über einen blöden Witz.

Dann war Wolfgang Eubel dran. Er trug ein Gedicht, das für sich alleine stand, aus einem wohl fünfzig Jahre alten Werk vor. Er trat ganz in Rot auf, und auch im Gedicht ging es um des roten Grafen Maus oder so. Für den Protokollanten ging das alles viel zu schnell, dazu noch Wolfgangs Stimme, die wie Donnerhallen über uns brandete. Notiert habe ich mir: bleiche Jungfer, … in welcher heißen Nächte Glut hast du, Drachentochter, die Kehle durchgeschlitzt … Träumen wollen von roten Mäusen, die den Berg anknabbern, dass er stürzt … und … weißer Mäuse Blutgericht. Grauen, Grauen, Grauen.

Ich wage nicht, dazu substanzielle Hinweise zu geben, könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich alle Arroganz aufbieten wollte, derer ich fähig bin. 😉

Dann gabs die Pause, in welcher alle fleißig ihr Bargeld an die Bar trugen, hoffentlich.

Verena, deren Nachnamen ich nicht weiß, die sich rege an den Diskussionen beteiligte, meldete sich, um sich am zweiten Weihnachtsfeiertag in die Annalen der Lesebühne als Themenbeauftragte einzutragen. Sie nahm gleich das erste geloste Thema: „Heinrich“. Da wird dann wohl die Gretchenfrage gestellt werden müssen. Wie hältst du es mit dem Gänsebraten!?

Wolfgang Weber überschüttete uns in einem Editorial, wenn ich es richtig verstanden habe, für „Innenwelten“ mit seinen bewährten Assoziationsketten, Edition 18 der … „sag ich jetzt nicht, wie die Zeitung heißt“.

So viel zu tun, alles, sofort, gestern, in Hektik und Panik in die Pause; Farben, Formen, zwei Gesichter, ausgewählt für euch; über die Schulter schauen, was ihr seht: Katharsis, Drama, Aristoteles, Freud – was will die Kunst? Alles und nichts. Das sind meine zugegebenermaßen wenig erhellenden Stichpunkte. Wie aufm Jahrmarkt, sagte jemand aus dem Publikum, und Wolfgang versicherte uns: stand noch viel mehr drin, lauter theoretische Dinge, habe ich alle rausgeschmissen. Kann nie falsch sein.

Die neu gekürte Themenbeauftragte Verena, Künstlername Vera, las „Kinder der Rebe“ – das war mal eine wunderbar nachvollziehbare, kleine Geschichte mit einem zauberhaften Twist am Ende. Ich fand sie an manchen Stellen etwas arg wunderblumig, falls jemand mit dieser Wortschöpfung was anfangen kann, aber auch sehr liebenswert.

Eine Traube, die erlebt, wie ihre Nachbartraube im Vorbeigehen gepflückt und verspeist wird, zittert vor Angst, dass auch ihr ein solch schnödes Schicksal beschieden sein könnte, wo sie doch eigentlich mindestens ein Jahrgangswein hatte werden wollen. Das klingt bisschen abgedreht, aber da jeder das Gefühl kennt, nicht das aus seinem Leben gemacht zu haben, was mal dringesteckt hat, kann man sich eben auch sehr gut dazu verhalten. Und dann die zitternde Erwartung, als die Ernte naht (der Tag des jüngsten Gerichts), aber statt zerquetscht und gekeltert zu werden, wird sie einfach liegengelassen, spürt, wie alle Flüssigkeit aus ihr weicht, sie langsam braun und schrumpelig wird und plötzlich, man ahnt es, zur Sultanine Rosine wird. Und auch dazu kann man sich verhalten, dass die Ziele im Leben manchmal geändert werden müssen, damit man zufrieden und glücklich bleiben oder werden kann. Aus dem Publikum kam die Bemerkung, dass die Traube ein bisschen größenwahnsinnig rüberkam, aber auch solche Momente hat wohl jeder schon mal erlebt, sogar ohne Einführung der Cannabispflicht. Ich bin gespannt, was da im Dezember nach Weihnachten zum Thema „Heinrich“ kommen wird.

Matthias Rische las die Geschichte „Ungeboren“.

An einem merkwürdig mystischen Ort zwischen Brandenburg und Berlin, nah an einer zwanzig Meter tiefen Schlucht, saß ein Mann auf einer Bank, neben sich eine Brotdose und eine Thermoskanne und gab schamanisch anmutende Laute von sich.

Der Singsang des Mannes lockte eine Frau an, die beim Aufstieg zum Plateau unter Luftmangel litt und, bei dem Mann angekommen, ihn erstmal um einen Schluck Tee bitten musste. Sie wolle sich von seinen gesungenen Gebeten erden lassen. Sie hat Schmerzen im Unterleib und sinkt auf die Bank.

Der Mann stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern, verkündet ihr nach einer Weile, dass sie ein Kind geboren und fortgegeben habe, das ihr noch heute Schmerzen verursache. Er geht respektvoll.

Sie kann sich erinnern: neun Jahre ist es her. Es war dann für mich etwas verworren, weil mir nicht klar wurde, ob das Kind bei einer Fehlgeburt verloren wurde oder durch einen Akt der Gewalt oder durch Freigabe zur Adoption nach der Geburt. Und dann stellte sie sich die Frage: Bis zu welchem Zeitpunkt kann eine Frau ein Kind verlieren? Am Ende steht sie auf dem Mäuerchen über der „Schlucht“ und lächelt ihr erstes zartes Lächeln nach Jahren. Man weiß auch nicht, ob sie sich aus dem Leben scheidend oder einfach so erlöst hat.

Zuletzt las Gwen, eine Neu-Berlinerin aus Holland, die ihre Gedichte bis dato nur ins Englische übersetzt hatte und zwei davon mit Verve vortrug. Mir fällt auf, dass in unserem ganzen Regelwerk nichts zur Sprache steht, in welcher die Lesebühne stattfinden sollte. Englisch wird in Berlin mittlerweile stillschweigend vorausgesetzt, und die, die es nicht können, sinken verschämt in ihre Sitze. Aber wie wäre es mit fränkisch? Oder vogtländisch? Ich vermute, wir würden bei polnisch oder tschechisch eine Grenze ziehen. Französisch sicher auch. Aber es ist gut, dass es zumindest eine Universalsprache wie Englisch gibt.

Gwen hat sehr deutlich und gut artikuliert vorgetragen, dass wir alle walkers, strollers, wanderers und runners on a rotating parallelogramm wären. Together we walk seperately. Und es ging noch um eine cup of tea aus chinese porcelain, mug of heat, evaporation around the earth. When your eyes are old, I want to sit with you. Da frage ich mich doch, was an young eyes schlecht sein soll, dass man nicht mit ihnen sitten[2] kann. Wahrscheinlich macht man mit jungen Augen was anderes. Im zweiten Gedicht ging es, den Arm durch eine Zeitung gesteckt, um mining on the moon. The moon is now a source. Romantiker sind rettungslos verloren. Statt sich um die Verschandelung ganzer Landstriche auf Erden zu mokieren, haben sie Angst, dass der Mann im Mond gestört werden könnte. Dabei ist mining on the moon bestimmt eine bessere Idee, wo es da doch schon kalt und unwirtlich ist – wenn nicht das kleine Problem mit den Raketen wäre, die man braucht, um den ganzen Schrott zu transportieren.

Nun, wie auch immer: hier geht es um Literatur, nicht um Politik, und schon gar nicht um Wirtschaftspolitik. Aber sie hat angefangen. Wir sehen uns noch zweimal in diesem Jahr: am 28.11. und am 26.12.

Ich freue mich drauf. Euer


[1] Obwohl sie sogar einen Roman „Griseldis“ geschrieben hat. Da könnte ich direkt schwach werden. Ich hatte mal eine Mitschülerin dieses Namens, die in den Siebzigern beim Schulgartenunterricht sich mit mir auf Diskussionen über die Existenz Gottes eingelassen hat. Ich habe mehrere solche Diskussionen im Leben geführt und bin immer als Sieger vom Platz gegangen! Überzeugt habe ich zwar keine(n) Gläubige(n), obwohl ich mich sehr überzeugend fand. – Ist es nicht schön, wie einfach beim Akkusativ von Gläubige(r) das Gendern ist? Träumchen! Obwohl: Gläubige geht ja noch, aber Gläubiger? Am besten: die Glaubenden. Da stimmt die Verlaufsform immer.

[2] Ich beobachte eine neue Welle der Eindeutschung englischer Verben. Man konjugiert: Ich sitte, du sittest, er/sie/es sittet, wir sitten, ihr sittet, sie sitten. Wir haben gesittet und werden uns gesittet benehmen.

Das Wunderland Sonochnienien

Die 170. Offene Lesebühne SoNochNie! war eine besondere. Wir feierten unser Dreizehnjähriges aus dem März nach. Damals haben wir uns wegen Corona nicht so recht getraut. Jetzt also war es so weit. Dreizehn langjährige Stammautorinnen und Autoren hatten einen maximal sechs Minuten langen Text zum Thema „Öfter und länger kommen“, das der Kernmannschaft in einer wahrscheinlich weinseligen Laune zugeflogen war, geschrieben.

Zunächst jedoch setzte sich die der Lesebühne innig verbundene Ute Danielzick ans Klavier und spielte unsere Hymne, die sie einst zur 99. Lesebühne für uns geschrieben hatte. Denn ja: wir sind die Lesebühne mit der Hymne, ein zart-melancholischer, Mut machender Song, der mir an verschiedenen Stellen immer wieder die Tränen der Rührung in die Augen treibt. Liebe Ute: Danke dafür.

Leovinus führte uns durch diesen besonderen Abend, und als launiges Jubiläum zu Beginn hat er den 13. Jahrestag der Offenen Lesebühne SoNochNie! in seinen reichhaltigen, sich selbst fortschreibenden Folianten gefunden. What a surprise!

Man hörte die Feder des göttlichen Archivars den ganzen Abend buchstäblich kratzen. Terry Pratchett ließ grüßen.

Aber nun ging es los, atem- und fast pausenlos durch dreizehn Texte. Es begann mit Petra Lohan und „Läufens Weg ins Slow Sex Debüt“.

Ich finde ja, sein Debüt auf dem Gebiet des langsamen Genießens der sinnlichen Freuden kann der Mensch nicht früh genug haben. Petra stellte uns aber einen Mann namens Läufen vor, der viel mit Selbstoptimierung beschäftigt war, Treppentraining usw., der dabei eine ungesunde Besessenheit an den Tag legte, und folgerichtig erlitt Läufen einen Kollaps, als Marianne ihn ansah. Er musste mit Tatütata ins Krankenhaus, wo Marianne ihn besuchte, und Slow Sex wurde es alleine deswegen, weil man Rücksicht auf die Schläuche und Zugänge nehmen musste.

Petra bekam (wie jede(r) Lesende an diesem Abend) von Leovinus eine Urkunde als Themenbeauftragte(r) des Tages, Micha machte ein Foto, das er mit seinem kleinen Wunder-Polaroid-Drucker sofort materialisierte und dem/der Fotografierten aushändigte, ein kleines Unikat in Schwarz und Weiß und das will ich hier mal würdigen, was dem Michael Wäser immer so an kleinen Aufmerksamkeiten einfällt, die wie ein Basilikumstängel, eine Zitronenscheibe, eine Vanillestange, eine Prise Salz oder ein paar Körner roten Pfeffers dem Abend erst die Würze geben.

Als zweiten Lesenden zog Leovinus Stefan Franken aus der Lostrommel, dessen Gedicht „Gepupst und gegendert“ – oder hieß das gar nicht so, war das nur der Disclaimer, den Stefan vorwegschickte, das in seinem Gedicht eben gepupst und gegendert würde.

Ich glaube, es war nur der Disclaimer. Alle wollten sich dieser Herausforderung stellen, niemand verließ den Saal. Und es war wie immer bei Stefans Gedichten sehr vergnüglich. Mir hat es so gut gefallen, dass ich völlig versäumt habe, mir etwas zum Inhalt zu notieren. Aber das macht nichts. Ich finde, Pupen und Gendern gehören zusammen, weil es ja der schwerwiegendere Teil der Erkenntnisse eines jungen Mannes im Leben ist, dass auch Frauen … nun ja … ähm … nicht immerzu nur nach Rosenblüten und Flieder duften.

Dann gab es einen der vielen musikalischen Höhepunkte des Abends: die beiden jungen Nachwuchsmusiker Johann Faust und Ernst Krämer gaben auf ihren Waldhörnern ein kleines Duett von Mozart zum Besten. Vielen Dank an Euch zwei,

ihr habt unserem Fest

die Krönchen aufgesetzt.

Leovinus zog sich selbst aus der Lostrommel. Er las einen Text über die Hans-Inseln, ein Vorbild, wie man Territorialstreitigkeiten zwischen zwei Großmächten lösen kann, wenn nur ein bisschen guter Wille und genügend Alkohol im Spiel sind.

Wie wichtig so kleine Eilande sein können, sehen wir ja gerade an der Schlangeninsel. Aber da geht es ums Schwarze Meer, wo es schön warm ist. Die Hans-insel ist ein unwirtlicher Felsklumpen zwischen Grönland und Kanada, also nichts, was man nicht mit einer Flasche Gammel Dansk und einem Whiskey unter Brüdern fair aufteilen könnte. Soll ja mittlerweile Großmächte geben, die Eilande aufschütten, um sie dann beanspruchen zu können. Wahrscheinlich ist das alles immer nur ein stummer Schrei nach … einem guten Obstler.

Der vierte Lesende war Max Ludwig. Sein Text nannte sich „Türkise Fensterrahmen“. Das Thema „Öfter und länger kommen“ bezog er auf den Kontrollverlust im Alter, wenn immer öfter und immer länger unangekündigt Leute in eines Menschen schwindende Privatsphäre eindringen.

Seine Mutter kündigt den nahenden Tod eines Verwandten an, indem sie dem Ich-Erzähler mitteilt, dass er sich keine Gläser mehr kaufen brauche – würden bald welche frei. Frage ich mich sowieso, jetzt, wo so viele junge Leute wieder bauen, was aus den ganzen Häusern werden wird, wenn die Babyboomer (also wir) alle abgenippelt sind. Riesige, ausgestorbene Einfamilienhaussiedlungen, die von den Akteuren kommender Völkerwanderungen bezogen werden können. Solche Gedanken kamen mir bei Max‘ Text.

Johann Faust brachte uns ein kurzes Klavierstück von Schumann zu Gehör,

bevor Leovinus Michael Wäser aus der gebogenen Amiga-Schüssel fischte. Micha ließ seinen Helden öfter und länger zu dm gehen, wo er einen kleinen Parforceritt durch die Werbesprüche der Dusch- und Waschmittelhersteller unternahm – Markennamen aufrief, wie Miele, Dr. Oetker oder Heckler & Koch.

Der Text fand viel erheiterte Zustimmung, weil halt Werbung unser aller Leben, selbst im Osten, geprägt hat, ich erinnere bloß mal an das Malfa Kraftma Brot – und? Hat da wer gleich den Jingle im Kopf? Das würde heute auch sehr gut zu dm passen.

Matthias Rische kam auf die Bühne und es wurde düster und morbide:

Körper ohne Form, willenloser grüner Stoff, zur Zweidimensionalität degradiert. Hände, die ein Leben lang zähen Teig geknetet haben, kneten nur noch Luft und Zeit. Worte waren genug gesagt und haben nie ausgereicht. Und am Ende fließt aus dem Auge nach Jahren der Trockenheit noch eine Träne. Ich sah den Ritter von Kahlbutz vor meinem geistigen Auge.

Daraus rettete mich ein Waldhorn-Duett von Mozart.

Vor der Pause las noch Andrea Maluga von einem Blumenladen im Friedrichshain, der eigentlich eine Alien-Zentrale ist.

Die Not der Inhaber besteht nun darin, dass sie wieder weg von der Erde müssen. Sie wissen nicht, ob ihre Haustiere auf Darson 17 mittlerweile erlaubt sind. Sie machen aus einer Kartoffel siebenhundert, regen sich über das Mistblatt „Space Guardian“ auf, bedauern die unterentwickelten Geschmacksnerven irgendwelcher Gäste und wurden noch von einem schrecklich berlinernden Klonkenvogel besucht.

Es gab eine Pause. Wir schwatzten und tranken. Und Petra Klingel aus Spandau nutzte die Zeit, in sich zu gehen, und sich als Themenbeauftragte für den Monat August zu bewerben, Danke, Petra. Als Thema zog sie „Gleichklang“. Viel Spaß beim Schreiben.

Katharina Körting sprang aus dem Lostopf – und las „Im Warteraum“. Es ging um die Sehnsucht nach Berührung – und die hat dieser Text erfüllt, jedenfalls für mich am stärksten an diesem Abend.

Wie ihr Körper liebte und sich lieben ließ, Furcht vor den Bedürfnissen der Haut verspürte. Vor allem liebte sie das Warten. Irgendwann kam er doch noch und legte seine Verlegenheit großspurig auf den Tisch– ein zauberhaftes Bild, vor allem, weil sie ihre gleich dazulegte. Am Ende, resümierte das Ich, wird das Warten das beste gewesen sein. Am Leben bleiben hieß: im Warten bleiben.

Johann spielte danach etwas Drastisches am Klavier, als wollte er der Wartenden auch ein wenig Zorn mitgeben.

Arved Wolf las „Ofenfrische Brötchen“.

Mit dem wunderbaren Satz: Dich kennen sie hier alle, mich mustern sie nur.

Ein paar endlose Nächte

Ein paar Schritte zu zweit

Ich weiß, dass du da bist.

Komm, rede mit mir.

Angela Bernhardt hatte sich dem Thema auch über Aliens genähert.

„Das große Experiment“ hieß ihre Geschichte, die Menschheit als Versuch, der gelungen ist, wenn wir es schaffen, friedlich zusammenzuleben. Darüber soll der oberste Seelenrat wachen. Zwei der Laboranten, so ordne ich sie mal ein, Ratta und Sabet, sondern sich ab, probieren das Leben. Es vergeht die Zeit: 18 Jahre, 25, schließlich 150. Sie hat der oder das Viralvirus befallen, ein Haufen Kinder ist daraus entstanden. Es hatte etwas Hoffnungsfrohes, dass Angela auch in 150 Jahren noch Leben sah.

Endlich las ich, Frank Georg Schlosser, meinen Dialog mit meinem Tod.

Denn, das war die große Erkenntnis aus der Arbeit an diesem Text: jeder hat seinen eigenen. Was bedeutet, dass er (der Tod) wenig bis gar nichts zu tun hat und viel warten muss, bis er eines Tages das letzte Lichtlein auspustet. War ein eher augenzwinkerndes Plädoyer für einen immer öfteren und immer längeren inneren Dialog mit dieser kleinen Unvermeidlichkeit.

Schließlich gab es von unserem Hornduett des Abends Johann und Ernst den letzten Mozart (wird es einen Tag im Leben der Menschheit geben, an dem der letzte Mozart gespielt worden ist?),

bevor Wolfgang Weber drankam, der etwas aus dem Öff Öff las. Lost in Transöffilation.

Er nahm in seine Begriffe-Kompilation mehrmals Bezug auf die dreizehnjährige Geschichte der Lesebühne (Tresen auserlösen), schreckte aber auch vor Langnasen nicht zurück oder Strang und stränger, um mit dem Wunderland Sonochnienien zu schließen, das bestimmt auch demnächst der Nato beitreten wird.

Nun zog Leovinus das letzte Los, obwohl klar war, dass es nur Gudrun Sonnenberg sein konnte, die noch in der Los-Schallplatte hockte. Sie las von einem Mann, der seiner Hüfte schwingenden Frau beim Kochen zusieht und sich wünscht, dass sie ihr eigenes Essen einmal genießt.

Er zieht den Moment hinaus, muss nochmal um die Ecke, drei Minuten steht er im Klo, damit sie zur Ruhe kommt, den Duft der wunderbaren Sauce riecht, möchte, dass die Aromen es schaffen, den entrückten Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern, den er so lange nicht gesehen hat. Es gelingt nicht, sie schaut auf ihr Smartphone, als er doch zurückkommt, und irgendwie möchte ich dem Manne zurufen: auf dem Klo rumstehen oder in den Keller gehen Wein holen sind keine Wege, einer Frau einen entrückten Ausdruck aufs Gesicht zu zaubern. Aber ich saß im Publikum. Mir war der Weg in Gudruns Geschichte nicht möglich.

Alle Lesenden und die MusikerInnen kamen nochmal auf die Bühne. Irgendwer schmiss die von Micha neu erworbene Seifenblasenmaschine an. Und das Ding machte nochmal richtig was her. Als stünden wir zum Abschlussvorhang vor tausend Zuschauern, waren wir umhüllt von im Licht sich spiegelnden, in Millionen Farben changierenden … ja … Seifenblasen, was nach einer Weile den Bühnenboden etwas rutschig machte.

Aber: !!! Es gab keine Unfälle. Ein zauberhafter Abend, den wir mit einem Glas in der Hand vor dem Zimmer 16 noch ausklingen ließen, ging zu Ende.

Danke, Zimmer 16! Auf die nächsten dreizehn Jahre – das scheint mir durchaus ein Wunsch zu sein, dessen Erfüllung nicht völlig unrealistisch ist.

Erstmal bis zum vierten Montag im Juli 2022, das müsste der 25.7.2022 sein.

Euer

Aufdringlichkeit der Liebe im öffentlichen Raum

Der 23. Mai 2022 war der 159. Jahrestag der Gründung des ADAV in Leipzig/Königreich Sachsen. Das ist nicht, wie man gemeinhin annehmen könnte, der Vorläufer des ADAC, sondern der SPD, der Beginn der Sozialdemokratisierung Deutschlands, die mit Heil Hubertus nun ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Und es war der Abend der 169. Lesebühne SoNochNie! im Zimmer 16 in Pankow.

Themenbeauftragter des Abends war Anton, Thema: „Löwe im Park“, aber Anton war nicht da, also stellte ich für alle folgenden Lesenden die Challenge, in ihren Texten einem Löwen im Park kurzfristig Asyl zu gewähren, eine kleine literarische Flüchtlingskrise sozusagen.

Aus der Losschüssel sprang zunächst Wolfgang Eubel, der einen lustigen Text ankündigte, in dem eine kurze Geschichte der Geschlechter vorgestellt werden sollte. In Zeiten, wo es weder Mann noch Frau länger geben soll, sondern nur Menschen, denen entweder die Wechseljahre oder die Midlife-Crisis, Brust- oder Hodenkrebs drohen, ist das ein äußerst wichtiges Thema. Allerdings konnte er in der Kürze der Zeit nur eine weniger lustige Fußnote zu Gehör bringen über einen Junglehrer, der zum Oberministerialdirektor wurde. Immerhin kam der Satz vor: „Was so ein richtiger Löwe ist, der macht sich unabkömmlich.“  Im Park, hätte er noch hinzufügen können, im Park. Außerdem kam eine Schreibkraft vor, die schneller tippt, als Wolfgang redet. Und wir erlangten (in der Diskussion über den Text) Aufklärung darüber, dass es im Englischen eine Trennung zwischen Hi…Story und Story gibt, wo uns im Deutschen nur die Geschichte bleibt. Und dass Fortschritt sich darüber definiert, dass das Drücken auf die Knöpfe immer bequemer wird.

Der zweite Lesende war Matthias Rische. Diesmal ging es um einen Jungen, der sich einen persönlichen Friedhof der Kuscheltiere anderer Leute angelegt hat, weil er Spaß daran hatte zu töten. Das Ganze hatte etwas mit dem Blick des Galapagos-Hais zu tun, der in einem Aquarium auf ihn zu schwamm, und dessen Blick der Junge am Ende der Geschichte übte. Die Geschichte hieß folgerichtig „Mimik der Haie“.

Er tötete auch den Säufervater und die untertänige Mutter, die den getöteten Vater vermisste, obwohl der Junge angenommen hatte, sie von ihm befreit zu haben, ein Thema, bei dem ich ganz hellhörig wurde, weil ich auch einst den Tod meines Vaters als Befreiung meiner Mutter sehen wollte. In der Diskussion wurde ein Gefühl von kindlicher Greisenhaftigkeit beschrieben: „die durchschauen es nicht (im Verlaufe der Geschichte), die haben es schon durchschaut.“

Dann las Wolfgang Weber ein Triptychon, in dem er mehrmals vorbildlich den Löwen unterbrachte. Das erste Bild beschrieb den „Sommer in der Stadt der Löwen“ mit Stichworten wie Sommer, Sonne usw., wobei mir beim Schreiben sofort dieser Schlager ausse DDR einfällt: Sommer, Sonne, Sonnenstrand, Kleckerburg im Kieselsand, ja, die Ostsee macht was her, was wolln wir denn am Schwarzen Meer. Sorry, konnte ich gerade nich halten. Das zweite Bild von Wolfgangs Triptychon beschäftigte sich mit Gegensätzen wie Forte und pianissimo, Konzertsaal und Scheune und so weiter und das dritte Bild mit dem Gegensatz von mobil und stationär. Da kamen Worte wie Brustbeutel (mobil?) und Seen ohne Löwen (stationär?) vor. In der Diskussion charakterisierte jemand das Ganze als terroristische Abgehacktheit, ein(e) Weitere(r) sah den Schlussteil als die Predella, und ein Dritter fühlte sich auf einer Reise zu den Anderschen Nachkriegshörspielen mitgenommen.

Nach der Pause erklärte sich Tomas Blum bereit, am 25.7.2022 der Themenbeauftragte für den Juli zu sein – und als Thema wurde ihm „Silbern“ zugelost. Herzlichen Glückwunsch – und viel Spaß wünschen wir Dir, lieber Tomas, beim Schreiben.

Kurz vor der Pause war der Themenbeauftragte Anton doch noch aufgetaucht – und las nun seine Geschichte zum Thema „Löwe im Park“ – ein Text, den ich sehr faszinierend fand, aber meine Notizen sind etwas erratisch.

Ich werde aus ihnen nicht schlau, was der Fluch ist, wenn man diesen Artikel erst eine Woche nach dem Ereignis schreibt. Es begann mit: „Wenn ich einen Löwen sehe, muss ich würgen.“ Dann kam der Vorschlag (oder die Befürchtung), dass die Traufhöhe in Berlin demnächst auf vier Meter abgesenkt werden solle, weil das für den Dritten Weltkrieg günstig wäre, egal ob bei Flächenbombardements oder einem Atomschlag. Dann ging es um die Trümmerteile von Nachbars Drohne, die ein anderer Nachbar abgeschossen hat. Und als Letztes habe ich mir den Gedanken notiert, dass es ein Wesen (den Löwen im Park?) gibt, das es sich nicht nehmen lässt, den Augenblick des Gesättigtseins zu genießen, obwohl alles um ihn herum sich ängstlich als potenzielles Opfer sieht. Ich fand den Text wohl zu gut, um mir vernünftige Notizen zu machen – sorry dafür.

Dann las Tomas Blum. Er las aus demselben Text wie letztes Mal. Okrop 99 – wenn ich das richtig notiert habe. Pandemie – Ukraine-Krieg – Erstürmung des Kapitol. Es ist an uns, uns nicht zum Narren halten zu lassen. Dann gab es eine Aufzählung, was er alles mag: eine Wunde verheilen zu sehen; warmen Vanillepudding; Haut – Häute sind Landschaften; Pizza und Spaghetti-Auflauf; Telefon; Bilge; Mutter – alles, was ich bin, ist aus ihr geworden. Er kann nicht einen Finger gleichgültig krümmen.

Und dann sagte er den schlimmen Twitter-Satz: Bin ich der einzige Mensch, dem das so geht? Bei dem Satz werde ich leider algerisch – die Frage ist noch nicht mal rhetorisch zu nennen. Man ist nie der einzige, nie, nie, nie.

Er mag Küsse, die nach Rosmarin und Schmand schmecken, hellwache Menschen. Dann gab es noch die These, dass die Beatles sich aufgelöst hätten, weil der Name der Band lächerlich war. Da das Ganze eine Art Tagebuch sein sollte, gab es in der Diskussion die Diskussion, ob die Form einem Tagebuch entsprochen hätte. Man war sich da nicht ganz einig.

Katharina Körting las eine Glosse über die Aufdringlichkeit der Liebe im öffentlichen Raum. Sie möchte, dass sich die Firmen aus ihren Privatgefühlen raushalten. Edeka liebt sie und ihre Lebensmittel. Es gibt Mode, die mich mag, hergestellt unter liebevollen Bedingungen. Smileys sind Wellnesswaffen der Unterdrückung im Büro. Es gab dann eine Passage über eine Begegnung im privaten Raum, wo sich ein ungehobelter Klotz über ein ungeputztes Klo beschwerte, obwohl dort alles in Ordnung war und nach Seife roch. Aber im Großen und Ganzen ging es um die Anbiederung, die heute allenthalben, zum Beispiel auch in Stellenanzeigen der hippen Start-ups, an der Tagesordnung ist, und die eine Instant-Nähe herstellen will, die man sich doch eigentlich Im normalen Leben erst erarbeiten und verdienen muss.

Zum Schluss las Marcel Kröhner Gedichte über Walter Benjamin und dessen Flucht über die Pyrenäen mit anschließendem Selbstmord, weil er zurückgeschickt werden sollte. „Im Hintergrund die Schriften“ und „Ähnlichkeiten“, inspiriert von Benjamins Buch über seine Kindheit in Berlin, das erst in den Siebzigern in seiner jetzigen Fassung entdeckt worden ist. Das Buch redet, das sich im Gegensatz zu seinem Autor verstecken konnte. Es ging u.a. um die Schönheit des Weges in die Freiheit, die dann doch keine war, nur die ultimative, sich das Leben zu nehmen. Walter Benjamin ist nicht einfach zu lesen. Ich gebe zu, dass ich noch keinen Zugang zu ihm gefunden habe trotz manchen Versuches. So sind auch diese Gedichte für mich nicht einfach gewesen. Aber Marcel hat uns alle ermutigt, es mit Walter Benjamin zu versuchen, es sei sehr lohnenswert.

Das war sie dann, die 169. Lesebühne SoNochNie. Die nächste, die 170., wird eine Spezialbühne. Ausgewählte Autorinnen und Autoren lesen einen kurzen Text zum Thema „Öfter und länger kommen“ anlässlich des 13. Jahrestages unserer Lesebühne mit musikalischer Begleitung – siehe die Ankündigung auf der Startseite. Und am 1. Juli stellt sich die Lesebühne beim Hafenfest vor. Da zelebrieren wir mit fünf Leuten von der Kernmannschaft eine komplette Lesebühne in einer Viertelstunde. Wenn das nichts ist.

Bis dahin

Euer

Schreiben dauert länger als Lesen

Die 167. Lesebühne SoNochNie! nutzten wir

  1. um darauf hinzuweisen, dass Selbige vor nunmehr 13 Jahren noch im Studio zehn sechs Häuser weiter ins Leben gerufen worden ist. Der Moderator Leovinus war auf alle Fälle damals schon dabei. Und
  2. um unsere aus diesem Anlass herausgegebene Anthologie „Unten ist noch Glut“ vorzustellen. Zehn Autorinnen und Autoren, die die Kernmann/frauschaft der Lesebühne bilden bzw. regelmäßig bei uns lesen, haben aus ihrem Schaffen je zwei Kurzgeschichten oder sechs Gedichte zur Veröffentlichung dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Die Anthologie kann als Taschenbuch oder als E-Book bei Amazon oder Thalia oder zur nächsten Lesebühne gekauft werden.

Ansonsten begann Leovinus wieder mit einem dieser absurden Jubiläen, die er in mühevoller Kleinarbeit in alten Bibliotheken und großen ledergebundenen Folianten zusammensucht, nämlich dem 1829. Jahrestag der feierlichen Erschlagung des Kaisers Pertinax. Ich habe mir noch als Stichwort das Vierkaiserjahr aufgeschrieben, aber da kann was nicht stimmen, denn das ist schon 1953 Jahre her. Wer das für sich klarkriegen will, versuche sein Glück bei Wikipedia.

Themenbeauftragter war ich, Frank Georg Schlosser, mit dem Thema „Dreizehn“. Ich nutzte die Gelegenheit, auf das Erscheinen meines neuen Romans „Verfluchter Weißer Mann“ hinzuweisen, den man gleichfalls käuflich erwerben kann und der zeigt, wie man die Geister der Vorfahren versöhnen kann, damit sie einem nicht den Schlaf rauben. Sehr nützliche Lektüre also.

Die Geschichte zum Thema Dreizehn hieß „Das Podest“ und handelte von einem Skelett, das beim Abriss eines jahrzehntealten Podestes von Dennis gefunden wird und die Frage aufwirft, wer das damals da hingelegt hat. Dennis hat Bert im Verdacht, damals die schöne Olivia getötet und unter dem Podest entsorgt zu haben, aber Bert meint, das habe Dennis im Suff damals selbst erledigt. Leovinus zog die Lehre aus dem Gelesenen:

Interessiert ihr euch für alte Reste,

schaut nicht unter die Podeste.

Als zweiter Lesender wurde Wolfgang Weber gelost. Es ging diesmal um Promenaden, Modest Mussorgski, auf dem Bahnhof ausgerufene Eltern, die so davon erfuhren, dass ihr Sohn sich verspätete. Wieder mal wurde die Frage aufgeworfen, welcher Art Wolfgangs Texte wären – und seine Antwort: es sind rhythmische Texte, damit bin ich aus dem Schneider. Aus dem Publikum kam die Definition, dass es ein Gedicht sei, wenn viel Weiß um die Wörter wäre. Aufm Papier siehts aus wie ein Gedicht, stellte Wolfgang daraufhin fest. Leovinus‘ Überleitung:

Wolfgang war zu spät wohl da,

dort in Hamburg Altona.

Dritter Lesender war Michael Wäser. Sein Text führte zu milden Verwerfungen, aber dazu weiter unten. Micha las aus seinem Projekt, in dem eine Mutter aus der Zukunft an ihre Kinder, ich sage mal über die Menschheitsgeschichte schreibt. Diesmal ging es um einen Jugendlichen namens Charles, der sich vor dem Erbrechen fürchtete. Ihn befiehl Todesangst, wenn ihm übel wurde. Charles war ein begeisterter Käfersammler. Und einmal fand er einen außergewöhnlichen Käfer nach dem anderen, so dass er den letzten mit dem Mund fangen musste – der Käfer sonderte zur Verteidigung ein Sekret ab, was Charles leidenschaftliche Käfersammelwut und seine Emetophobie (!) in den allerheftigsten Konflikt brachte.

Allerdings erwähnte Charles (und damit Micha) am Anfang die Bibel, sprach über die Ahnungslosigkeit deren Verfasser, was nun wieder unseren Oberbibelkritiker auf den Plan rief, der die Aneignung uralter Mythen der Menschheit durch die Bibelverfasser mit dem Raub eines Rembrandt durch Göring verglich. Es ging ihm wohl darum, dass die Bibel eine Art Raubkunst ist. Und wenn man sich ihrer bedient, wird man schnell zum Antisemiten oder so ähnlich, und vor dieser Gefahr wollte er den Verfasser wohl warnen.

Vergebliche Liebesmüh, kann ich nur sagen: seit Henryk M. Broder („Der ewige Antisemit“) weiß ich, dass vor dieser Gefahr niemand gefeit ist, nicht mal der oberste Oberbibelkritiker. Die unerquickliche Diskussion wurde von Leovinus beendet mit:

Ist es auch zum Übergeben,

die Evolution bestimmt das Leben.

Dann wurde der Themenbeauftragte für den Mai gewählt. Anton, dessen Nachnamen ich erfragt, aber nicht notiert habe, lehnte als Thema „Taumeln“ ab und muss nun „Löwe im Park“ nehmen.

Die erste Lesende nach der Pause war Katharina Körting. Sie griff sich die eingangs erwähnte Anthologie und las ihren Text „Immer grün“ – in dem geht es darum, dass es besser geht, wenn man schreibt. Wenn man schreibt, dann ist ich nicht nur ich.

Kann ich nur bestätigen. Wer den Text nachlesen will, lege sich die Anthologie zu, es lohnt sich, besonders auch dieser Text. Man sollte ihn laut und langsam lesen. Es ist zwar nicht ganz so viel Weiß um die Buchstaben, trotzdem ist er in seiner Dichte nahe am Gedicht. Mit den Worten

Fühlt man sich auch manchmal leer,

weniger ist niemals mehr.

zog Leovinus den vorletzten Lesenden aus dem Hut:

Michael Wiedorn.

Sein Text hieß „Zurück ins Feuchte“ und es ging um des Erzählers alten Ekel vor seinem Vater, dessen alles Leben einschläfernde Gleichgültigkeit, die bösartige Kälte seiner Augen, die aus dem Schädel springt. Alkohol zersetzt das Fleisch. Mein Vater war früher Mensch und hat sich in einen alles zersetzenden Schimmelpilz verwandelt.

Auf eine Frage aus dem Publikum sagte der Autor: Schreiben dauert länger als ich gelesen hab. Mit dem Reim

In des Schiffes dunklem Bauche

zu den Abgründen ich tauche

leitete Leovinus zum letzten Lesenden über, nämlich Matthias Rische, der einen zahmen Text mit dem Titel „Kernfamilie“ versprach.

Er handelte von Claudio, dem Vater, der eine Mispel mit dem Messer teilte. Dann war da noch seine Frau Ilinia und der Sohn Kasim, sowie eine Spieluhr, die ein traditionelles ägyptisches Schlaflied spielte. Vor dem Fenster nahm ein Mispelbaum das Licht. Mit dem Mispelbaum hatte ich so meine Not, aber er scheint früher eine weit verbreitete Kulturpflanze gewesen zu sein, und im Saarland heißt er Hundsärsch. Der Konflikt im Text kulminierte in dem Satz: Geh pflanzen, du Bauer, damit du noch mehr ägyptische Hurensöhne zeugen kannst. Mit dem aufmunternden Spruch

Bei der Dinge tiefstem Kern

liegt das Grauen oft nicht fern

schickte uns Leovinus in die dunkle Nacht hinaus.

In der Hoffnung, dass alle gut zuhause angekommen sind, verbleibe ich

Euer