Am seidenen Faden…

Die 188. Lesebühne startete mit diesem Thema, das wie nur wenige das Lebensgefühl unserer Zeit widerspiegelt. So begrüßte uns Frank Georg Schlosser mit nachdenklichen Worten über den Zustand der Welt in einer Gesellschaft, deren zersplitternde Teile zunehmend auseinanderdriften. Eines der grundlegendsten Bedürfnisse, nämlich der Frieden, scheint gar nicht mehr als so sicher gegeben. Da sollte man die Fäden doch ganz schnell wieder aufnehmen und an einem gemeinsamen Ganzen spinnen. Das jedenfalls geschieht auf unserer Lesebühne Sonochnie seit fast 15 Jahren, und noch niemals hing ihre Existenz an einem seidenen Faden!!!

Themenbeauftragte des Abends war Swantje Lange, die mit ihrem Text „Von jetzt auf gleich kann alles enden – Fiebertraum statt Kurzgeschichte“ den Reigen der Lesenden eröffnete. Der Text begann mit der Feststellung der Autorin, dass sie ihren von unruhigen Träumen durchwachsenen und wenig erholsamen Schlaf in drei Zustände einteilen möchte: 1/3 Schlaf, 1/3 Traum, und 1/3 Wachsein. Und so führte sie uns durch jene seltsamen, oft nicht logisch zusammenhängenden Erinnerungsfetzen, die ihr nicht nur den Schlaf raubten, sondern fortwährend an der Gewissheit meißelten, jemand oder etwas oder gar sie selbst könne sich in Sicherheit wiegen. Ihre Traumlandschaft brachte zutage, dass nahezu alles am seidenen Faden hängt: eine 25-Jahre alte Brieffreundschaft etwa, eine nicht näher beschriebene Verletzung, die als Blut den Arm hinunter läuft und die Autorin zum Notfall, den Notarzt aber nicht notwendigerweise zum Handelnden macht. “Warum sind Gefühle so eklig toxisch“, fragt sie sich, und stellt fest: „Ein Ende kann auch ein Anfang sein.“ Das Publikum zeigte sich diskussionsfreudig und zum Glück bestätigte uns Swantje, dass ein seidener Faden zwar auf eine labile Situation hinweise, aber dennoch Hoffnung impliziert. Eine sehr poetische Reise ins Urängstliche.

Nächste Lesende war Gwen von Arnheim mit zwei kurzen und sehr berührenden Texten, die aus der Zusammenarbeit mit Kindern in einem Flüchtlingsheim entstanden sind. Im ersten Text kam Ada zu Wort: „Mein Name ist Ada, 9 Jahre alt.“ Ada fragte sich, wie man mit dieser furchtbaren Langeweile umgehen solle, und wie mit einer zerstörten Stadt, oder der Angst der Mutter. Ada, die wohl schon viel mehr gesehen hat, als viele ihrer Altersgenoss*innen, kommt auf die geniale Idee, sich eine Art Gebrauchsanweisung selbst zu verfassen. Darin gibt es vier Punkte: 1. Holz – die Axt schwingen, damit die Wut den Baum trifft, und nicht den Verursacher des Krieges, 2. Koffer – alles, was sechs Personen benötigen, muss in zwei Koffer gepackt werden 3. Ankommen, 4. Sprache – die seltsame fremde Sprache will sie unbedingt erlernen; sie will ihre eigene Sprache haben. Die Protagonistin des zweiten Textes ist Zita, ebenfalls 9 Jahre alt. Ihre Nacht ist halbiert: In der ersten Hälfte trägt sie ein gelbes Kleid, wird vom Vater in die Luft gewirbelt: „in gelb bist Du die Sonne!“ In der zweiten Hälfte kommt eine Krähe zu Besuch, an deren Fuß ein Ring mit dem eingravierten Namen des Vaters befestigt ist. „Ich will hier von meinem Papa erzählen können, alles, alles“, bekräftigt sie traurig und selbstsicher.

Sabrina Wägerle las zwei Prosa-Gedichte. „Diskursive Stille“ hieß das erste, welches das Lebensgefühl der Autorin beschreibt, die ermächtigende Sprache nicht in die Wiege gelegt bekommen zu haben. „Wie kann ich mächtig sprechen lernen?“, fragt sie sich auf der Suche nach Sprachkursen für Bildungsferne. Aufgewachsen in einer Bauernfamilie steht sie mit dem Wunsch, Literatur zu lesen, zu schreiben oder gar zu studieren, alleine da, empfindet den eigenen akademischen Duktus als aufgepfropft. „Wir sind nicht gelehrt worden, zu denken“, schreibt sie, und „Jemand muss ja schließlich den Müll wegbringen.“ Gerade dieser letzte Satz kam wohl einigen aus dem Publikum, mir auch, nur allzu bekannt vor, und so fühlten wir uns von ihrem Text sehr abgeholt. Zum Glück schreibt sie, zum Glück hat sie studiert! „Lass mich leben, das kreative Leben“, ist ihr zweites Prosa-Gedicht. Eine Ode an das Leben selbst. „…lass mich einziehen in die Mitte meines Herzens…der Lebenskern glühend…bitte sei zart zu mir, obwohl ich manchmal vor Lebenswut zu zerbersten drohe.“ Nicht weniger poetisch und stark als der erste Text, leider etwas weniger beachtet, wohl aufgrund der vielen Abgeholten aus dem Publikum.

Nächster Lesender war Frank Georg Schlosser, der uns ein weiteres Mal einer skurrilen Situation seiner Protagonisten Velati und Savom beiwohnen ließ. „Velati und der Wahlrossmann“ hieß die Geschichte, und ohne Vorwarnung fiel der Text mitten in eine sadomaso-erotische Zusammenkunft der beiden ein. So saßen wir denn vor einem gefesselten, und eventuell nackten, Savom, der von Velati mit einer Lederquaste mal weniger, mal heftiger gestreichelt oder gepeitscht wurde. Velati erzählte Savom die Geschichte vom Wahlrossamann, die er geträumt hatte. Velati erwartete unbegingte konzentrierte und teilnahmsvolle Zuhörerschaft von Savom, was nicht dessen Sache ist; weswegen er Velati zu Tränen reizte, der wiederum mit der Geschichte nicht zu Potte kam, worunter auch der Gebrauch der Peitsche litt. Die Erregung kam und ging und das Liebesspiel kam nicht voran. Schließlich wurde Pangrü herbeitelefoniert, die die beiden wohl schon des Öfteren aus einer solchen Situation gerettet hatte. Sie erschien in voller Lederausrüstung mit allem was dazu gehört, und nun endlich kam Fahrt auf in der Angelegenheit. Zum Glück setzte die Erregung wieder ein und die Geschichte kam zum Happyend. In der anschließenden Diskussion hatten einige Schwierigkeiten mit den Namen, und auch, die beiden auseinander zu halten. Da haben sie wohl die vorangegangenen Velati- und Savom- Geschichten nicht gehört…

Und jetzt Pause! Und eine kleine Vorankündigung: Am 25. März 2024 wird die Lesebühne Sonochnie 15 Jahre alt! Es erwarten Euch 15 Geschichten zum Thema: zärtlich wie noch nie, und dass sollte sich niemand entgehen lassen! Außerdem wird gründlich gefeiert, Ute Danielzicks und anderer Musik gelauscht, das Ambiente wird besonders sein, und wir werden Bücher unserer Sonochnie-Autor*innen verlosen. Kommt also vorbei und feiert so wie noch nie!

Nach der Pause ging es weiter mit einem erstaunlich kurzen Text von Wolfgang Weber. „Weit bist Du gekommen“, war sein Titel, und er handelte vom woher und wohin des Lebens, oder auch des Lebensentwurfes. „Früher konnte man ein Auto selber reparieren, heute ist alles digitalisiert“, stellte er fest um fast ironisch ein: „Weit bist Du gekommen“, einzuschieben. “laut, lauter, am lautesten“, “ rock in drop out“, und selbstverständlich spannte er, wie immer den Bogen zur Musik, streifte einige Bands, und ließ den Text ziemlich schnell zu Ende gehen. Das Publikum fand diesen phänomenal präsentiert, spitzbübisch und spitzbombisch. Nicht zärtlich, sondern liebevoll. Dem kann ich mich nur anschließen und stelle fest, dass das Thema des Jubiläums „zärtlich wie noch nie“, doch irgendwie einem gewissen Bedürfnis der Zeit zu entsprechen scheint.

Nun folgte ein Text von Matthias Riesche: „Wo Du nicht bist“, was schon den Verlust vorweg andeutet, um den es in seiner Geschichte gehen wird. Langsam werden wir in etwas Dunkles, Unfassbares herangeführt. Es ist das Leben einer Mutter, die die Krankheit des Sohnes und dessen langsames Sterben erleben muss. In hingebungsvoller Pflege kümmert sie sich um ihn, und wir begleiten sie dabei, wenn sie ihn kämmt, seine Haare wäscht und schneidet, und auch die Nägel kürzt, wenn sie sich erinnert: „Es waren so kleine Hände. “ Man begreift ihren Kummer und das Grauen, das der Situation innewohnt. Wenn sie es nicht mehr aushält, flüchtet sie in eine Dunkelkammer, die hermetisch von der Welt abgeschlossen ist, und die ihr die Möglichkeit gibt, ganz bei sich zu sein. Die Schwärze und die Stille erst ermöglichen ihr eine kurze Atempause. Das Publikum fand die Erzählung sehr spannend, v.a. die Idee, dass die Alterungsprozesse des Sohnes an dessen Körperteilen festgemacht werden. Vor allem ist er es, der altert.

Nun betrat Wolfgang Eubel die Bühne. Es ging um James Joyce und Finnigans Wake. Es gab aber keinen Titel, und im Verlauf des Vortrags erfuhren wir, dass James Joyce eigentlich fast gar nicht bis nicht zu verstehen ist, und ebenso Finnigans Wake. Es kam auch noch ein Fluss der Flüsse vor, und schlussendlich kam heraus, dass es sich um einen Werbeblog und nicht um eine Geschichte handelte. Zum Glück half Wolfgang Weber weiter, der natürlich wusste, dass Finnigans Wake eine altes irisches Volkslied ist und das es darüber eine Dokumentation gibt, die man sich ansehen könne. Also. Schwierig. Leider kann ich meinen Aufzeichnungen weder das Datum, den Ort und den Titel der Veranstaltung entnehmen. An dieser Stelle verlässt Wolfgang Eubel die Bühne. Ob er das nächste Mal doch einen Text vorträgt?

Weil sein Beitrag sehr kurz war, ist doch noch Zeit für eine*n weitere*n Vortragende*n. Dieser ist Paul Kustermann. Er las aus einem Roman, den er während der Corona-Zeit schrieb, und der noch nicht veröffentlich ist. Protagonistin ist die Ehefrau von Konrad, die die Pflege dessen Mutter übernimmt. Wir hören einen Teil des ersten Kapitels, in der wir Konrad kennenlernen, der in draufgängerischer Manier sich halsbrecherisch auf seinem Motorrad ein Wettrennen mit einem Audi-Fahrer liefert. Auf der Autobahn. „Letztendlich entscheidet Konrad, dass die Blamage im Vergleich zum Tod die bessere Option sei, und beendet seinerseits das Wettrennen. Wie es so geschieht im Leben, gibt es einen plötzlichen Stau und einen Unfall. Konrad sieht ein Motorrad, welches irgendwie an einem LKW klebt, und einen verunfallten Motorradfahrer, auf der Straße liegend. Und man hört Sirenen. In der anschließenden Diskussion wird klargestellt, dass der Motorradfahrer Konrads draufgängerischen Charakter präsentiert, ganz im Gegensatz zu der Aufgabe, die er hat, sich um seine bettlägerige Mutter zu kümmern.  

Mit dieser spanungsgeladenen Geschichte endete die 188. Lesebühne. Vielen Dank, lieber Frank, für die tolle Moderation, Danke an Michael für die Fotos, Danke an alle fürs Lesen, Lauschen und Diskutieren! Die 189. wird „Bowle“ zum Thema haben, Frank Georg Schlosser wird Themenbeauftragter sein. Wir freuen uns und sind gespannt.

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